Die Sinnkrise war überfällig. Aber erst nach dem vermasselten Wiedereinzug in den Bundestag der FDP wird darüber diskutiert: Wann ist ein Liberaler eigentlich liberal? Und warum konnten andere Parteien den freigewordenen Platz der FDP nicht übernehmen? Ein Debattenbeitrag über die Zukunft der Liberalen und des Liberalismus’ von Kamuran Sezer.
Nachdem der FDP der Wiedereinzug in den Bundestag nicht gelungen ist, hat sie dort eine große Lücke hinterlassen. Nahezu alle Parteien im Bundestag haben Besitzansprüche auf den leeren Platz im Parlament aber auch in der Öffentlichkeit erhoben.
Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel hat für eine kurze Zeit die Fahne des Sozialliberalismus’ vor sich getragen. Der grüne Fraktionschef Anton Hofreiter hat den grünen Liberalismus proklamiert. Innerhalb der CDU waren schnell Worte des Bedauerns zu hören, dass die FDP als Kontrast zur konservativen Politik fehlen wird. Nur die Linke fand es toll, dass die FDP fehlt. Denn was sie unter Freiheit versteht, weicht vom Freiheitsbegriff der FDP ab.
Wer tritt das Erbe der FDP an?
Auch außerhalb des Bundestags fand ein Kampf statt, um die Erbe des Liberalismus’ anzutreten. Zum Gründungsmythos der “Alternative für Deutschland” gehörte es, dass sie sich als die bessere FDP verstanden hat. Zahlreiche FDP-Mitglieder wechselten zur AfD über. Hamburger FDP-Mitglieder traten aus der Partei aus und gründeten die “Neue Liberale”. Anders als die Beispiele zuvor haben die “Piraten” eine lange Zeit vorher schon den Anspruch erhoben, den Liberalismus zu vertreten. So besetzen sie eine lange Zeit klassische Liberalen-Themen wie Vorratsdatenspeicherung, Bürgerrechte oder Datenschutz erfolgreicher als die FDP.
Und jetzt? Wer repräsentiert den Liberalismus nun am besten? Keiner von denen!
- Spätestens mit den Entscheidungen für den Mindestlohn und für die Vorratsdatenspeicherung hat sich die SPD vom Liberalismus mehr als je zuvor entfernt.
- Mit dem Anspruch, den Liberalismus im Bundestag zu vertreten, sind die Grünen grandios gescheitert. Die Einsicht kam schnell und heftig, dass eine offensive Politik, die Gesellschaft ökologischer und gerechter zu machen, ohne einen Marktinterventionismus und ohne eine Bürgerbevormundung nicht zu realisieren ist.
- Die Freiheit, die Die Linke meint, ist die Freiheit ihres politischen Klientel und ist daher fundamental nicht liberal.
- Dass die AfD alles andere als eine neue oder bessere FDP ist, kann in der aktuellen politischen Selbstzerfleischung zwischen Neokonservativen und Nationalkonservativen eindrucksvoll beobachtet werden.
- Die Rechnung der Neuen Liberalen ist nicht aufgegangen. Die Hoffnung, eine FDP, die sich im Sinkflug befindet, in Hamburg abzulösen und in die Hamburgische Bürgerschaft einzuziehen, hat sich nicht erfüllt.
- Die Piratenpartei ist aufgrund interner Streits demoskopisch und personell in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht.
Also bleibt alles beim Alten!? Ist es die FDP, die den Liberalismus in Deutschland vertritt?
Die FDP muss sich redefinieren – aber wie!?
Ich sage: Nein! Die FDP muss sich erneuern. Innerhalb der FDP findet seit dem misslungenen Wiedereinzug in den Bundestag eine heftige aber ungemein spannende weil notwendige Diskussion über die eigene Identität statt: Wann ist ein Liberaler eigentlich liberal? Was sind die definitorischen Grenzmarken für einen Liberalen? Gibt es Kriterien, an denen man einen Liberalen erkennen, ja sogar messen kann?
Szenenwechsel: Die Sonne strahlt über die westfälische Stadt Münster. In Deutschland ist Sonne ein knappes wie launiges Gut. Entsprechend groß war der Andrang in den Cafes, Eisdielen, Biergärten oder Restaurants, die ihre Terrassen für die Gäste geöffnet haben. Während viele Münsteraner ihr wohlverdientes Abendessen oder Feierabendbier verkosteten, sitzen etwa 20 bis 30 Frauen und Männer im Alten Gerichtssaal der WWU Weiterbildung.
Die Sonne strahlt durch das Fenster. Manche Teilnehmer müssen die flache Hand vor den Augen halten, um den Politikwissenschaftler Dr. Thorsten Lange sehen zu können. Hören konnte man ihm dafür sehr gut. Seine Leidenschaft und Überzeugung für den Liberalismus steigerte seinen Ehrgeiz aber auch seine Geduld, um dem Publikum die Idee des Liberalismus’ so gründlich wie verständlich zu vermitteln.
An dem Abend referierte Dr. Lange, inwiefern der Liberalismus mit Gerechtigkeit, ein eigentlich gesellschaftspolitisches Konzept der Linken, miteinander vereinbar ist. Denn die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit ist ein dauernder Prozess, die die Intervention des Staats benötigt, so zumindest die Realität. Die Einmischung des Staats aber ist für einen Liberalen inakzeptabel!
Die Realität, wie gesagt, sieht nun einmal anders aus. Ein Mensch, der mit einer Behinderung geboren wurde, blickt auf das weitere Leben nicht unter den gleichen Bedingungen wie ein gesunder Mensch. Auch ein Einwanderer hat keine gleichen Startbedingungen. Es mangelt an der Sprache, am Wissen über das Funktionieren von Institutionen, an soziales Netzwerk, das aber wichtig ist, um sich persönlich, beruflich und sozial einzugliedern und zu etablieren. Alles das kann er sich erarbeiten, aber das benötigt Zeit. Jahre, vielleicht Generationen.
Oder eine Frau. Sie kann Kinder bekommen. Ein Mann nicht. Auch wenn alle sozialen und ökonomischen Bedingungen gleich sein mögen, der Umstand aber, dass eine Frau ein Kind gebären kann und auch will, verzerrt die Gleichheit der Ausgangssituation. Wenn der Ehemann oder Lebenspartner auch Kinder haben will wie sie, muss er keinen Mutterschutz nehmen und damit das Erwerbsleben unterbrechen, um auf der letzten Strecke der Schwangerschaft sich selbst und das Kind zu schützen.
Liberalismus – Idee und Wirklichkeit klaffen auseinander?
Inzwischen ist eine rege Diskussion im Alten Gerichtssaal ausgebrochen. Christoph Jauch freut sich darüber. Besonders auch darüber, dass so viele zur Veranstaltung gekommen sind, obwohl die Einladungen wegen dem Poststreik nicht angekommen sind. Auch hier ist zu erkennen, dass ein Bedarf existiert, über Liberalismus und liberale Identität zu diskutieren. Jauch ist Forenleiter für die Friedrich Naumann-Stiftung für die Freiheit und organisiert Veranstaltungen wie diese in Münster. Später wird er mir sagen, dass solche Veranstaltungen wichtig sind, um die Mitglieder über den liberalen Überbau zu schulen und zu informieren. Das sei so wichtig, um die Diskussion mit den anderen Parteien bestehen zu können.
Fragen folgen auf Fragen, die Herr Dr. Lange mit akademischer Geduld und Genauigkeit beantwortet. Im Zuge der Diskussion wurde mir eine Sache klar: Der Liberalismus als Idee folgt einem Ideal bzw. einem Idealismus, der nicht zu funktionieren scheint, wenn er in der Praxis angewendet wird. Denn, so Dr. Lange, ist der Liberale davon überzeugt, dass jeder Mensch mit Rationalität ausgestattet ist. Der Mensch ist vernunftbegabt, so das Ideal.
In der empirischen Existenz – Herr Dr. Lange wird diesen Ausdruck häufiger verwenden um auf die Einwände zu reagieren – stößt man allerdings auf Grenzen, oder auf Menschen, die sich eben nicht vernünftig verhalten oder bewusst Regeln des sozialen Miteinanders brechen. Hier entsteht im Kopf und im Herzen der Liberalen ein Wertekonflikt. Ich merke dies an den nachdenklichen und grimmigen Gesichtern der Teilnehmer. Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft Liberale wären, gäbe es diesen Konflikt vielleicht nicht. Auf der anderen Seite aber ist die Wertevielfalt und Vielfalt der Weltanschauungen in dieser Gesellschaft das Ergebnis des Liberalismus’, der über Jahrhundert für die Freite der Menschen gekämpft hat. So besteht die Gesellschaft nun einmal aus Konservativen, Gläubigen, Atheisten, Marxisten, Hedonisten, Arbeitslosen aber auch Liberalen.
Dann, denke ich mir im grellen Licht der Sonne, ist doch die Sache einfach. Man muss nicht die innere Haltung aber dafür den Blickwinkel wechseln, um den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit aufzubrechen, mit dem Liberale heute konfrontiert sind:
Empirische Existenz der Vielfalt ist das Resultat eines gelebten Liberalismus’
Wenn die empirische Existenz eine Vielfalt an Überzeugungen, Lebenskonzepten, Glauben und Lebensformen beinhaltet, muss man sie schlicht akzeptieren und in das politische Handlungsprogramm aufnehmen. Mehr noch: Diese Vielfalt muss als unverhandelbarer konstitutiver Teile einer gesellschaftlichen Wirklichkeit akzeptiert werden. Der Liberale hätte aber durch dieses Ideal einen herausragenden realpolitischen Auftrag in dieser diversitären, pluralistischen Gesellschaft.
Der Liberale befindet sich dann nicht mehr im Wettbewerb insbesondere gegen jene Ideologien und Ideologen, die Paternalismus, Etatismus, Kollektivismus, Autorität oder Staatsinterventionismus als politpraktische Prinzipien vertreten, wie Konservative, Sozialdemokraten oder Marxisten diese auf unterschiedliche Weise praktizieren. Im Gegenteil – der Liberale unternimmt alles erdenkliche, dass diese anderen Überzeugungen ihren sozialen Platz, ihre Rechte und ihre politischen Freiheiten in der Gesellschaft haben – unter einer sehr bedeutenden Bedingung allerdings: Keine Ideologie darf den anderen verdrängen!
Aus der Entwicklungsgeschichte des Liberalismus’ betrachtet, macht dieser Blickwinkel einen Sinn: In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, wie wir sie heute leben, müssen Liberale nicht mehr gegen Herrscher kämpfen, die noch mehr Macht anhäufen und sich über die Menschen stellen. Der Liberale heute muss sich dafür einsetzen, dass die sozialen, politischen und rechtlichen Freiheitsgrade für alle Menschen, alle Gruppen, alle Ideologien verteidigt und ausgebaut werden. Dafür muss er nicht Menschen, Gruppen oder Ideologen maßregeln und ihr Verhalten lenken, sondern die dafür notwendigen Strukturen im Recht, in der Bürokratie und in der politischen Teilhabe gewährleisten.
Liberalismus 2.0: Strukturation, Organisation und Innovation
Aus dieser realpolitischen Anwendung des Liberalismus’ ergeben sich drei praktische wie pragmatische Handlungsparadigmen, die man auf ein Individuum, eine Partei oder eine Gesellschaft übertragen kann:
Strukturregulation durch Regeln
Wichtigste Bedingung ist, dass alles Staatliche, Bürokratische, Juristische und Politische darauf ausgelegt sein müssen, dass in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung jede Überzeugung, wie extrem sie auch sein mag, eine Lebens- und Existenzgrundlage in der Gesellschaft haben darf und haben muss.
Bedingung: Die Einhaltung der Regeln muss in letzter Instanz durch den Staat im Sinne eines Agenten überwacht und notfalls durchgesetzt werden.
Selbstorganisation durch Meinungsfreiheit
Vor der Einmischung durch den Staat allerdings muss der Meinungsfreiheit einen breiten Platz zugelassen werden. Die Meinungsfreiheit hier ist nicht nur ein Wert und ein hohes Gut sondern ein sozialer Mechanismus für Innovation und Konfliktbewältigung. Denn durch ihr soll sichergestellt werden, dass eine andere Überzeugung nicht vorverurteilt und im Vorhinein ausgegrenzt wird, weil man sie vielleicht missverstanden hat.
Bedingung: Zulässig sind objektive und belastbare Argumente, deren Validität bewiesen und belegt werden muss. (Rationalismus/Empirismus)
Selbstinnovation durch Adaption
Eine Gesellschaft ist ein Gebilde, das einem dauernden Veränderungsprozess unterliegt. Die deutsche Gesellschaft heute ist eine andere als die Gesellschaft vor 40 oder 100 Jahren. Technologien, Erfindungen, Migration, Ideen, Innovatoren, Ressourceneffizienz in der Produktions- und Arbeitsorganisation und viele weitere Treiber führen dazu, dass die Gesellschaftsordnung, der Zeitgeist, der Wertehimmel und die Bedürfnisse der Menschen sich dauernd verändern. Die Liberalen müssen stets achten, dass eine Gesellschaft offen gestaltet ist, um dem Wandel und dem Fortschritt nicht im Weg zu stehen. Und hier schließt sich der Wirkungskreis.
Denn die Bedingung lautet hier: Auch in dieser veränderten, neuen Gesellschaftsordnung muss sozial, politisch und rechtlich gewährleistet werden, dass keine Überzeugung eine andere verdrängt.
Liberalismus 2.0: Toleranz ist systemimmanent
Ein solcher Liberalismus erfordert kein explizites Toleranzkonzept, weil es systemimmanent ist. Ein solcher Liberalismus muss anderen Ländern auch keine Demokratie oder andere Werte beibringen. Er hat es auch nicht nötig, anderen Menschen und Gruppen vorzugeben, was Richtig oder Falsch, Gut oder Böse ist. Realpolitisch interessiert er sich nur, ob alle existierenden Überzeugungen, Gruppen und Menschen über die gleichen Rechte, Freiräume und Freiheiten verfügen, um sich selbst, ihre Überzeugungen und Ideen zu verwirklichen.
Vor diesem Hintergrund kannst Du kein Liberaler sein, wenn Du bei Deiner Bewerbungsrede für den Vorstand der AfD von “Zuwanderungsislamisierung” sprichst. Du kannst kein Liberaler sein, wenn du den Islam als die einzig wahre Religion bewirbst. Du kannst kein Liberaler sein, wenn Du für Deine Überzeugung, eine ökologische Gesellschaft herzustellen, vorgeben möchtest, was Menschen essen oder trinken sollen. Du kannst kein Liberaler sein, wenn Du einem Arbeitgeber Gier unterstellst und ihn mit mehr Bürokratie kontrollieren und beobachten möchtest. Und keinesfalls bist Du ein Liberaler, wenn Du es gut findest, dass eine Autorität von oben herab bestimmen soll, was Du produzieren oder konsumieren darfst.
Du bist ein Liberaler, wenn…
Du bist aber ein Liberaler, wenn Du akzeptierst und Dich mit aller Kraft dafür einsetzt, dass der AfDler, der Islamist, der Marxist seine Überzeugung artikulieren und einbringen können. Du bist ein Liberaler, wenn Du gleichzeitig den Weltanschauung in den Weg stellst, die eine weltanschauliche Hegemonie für sich herstellen wollen. Du bist also ein Liberaler, wenn Du die Freiheitsgrade aller in einer Gesellschaft erweiterst. Und vor allem bist Du ein Liberaler, wenn Du ein redundanter Grenzgänger zwischen Freiheit und Fremdbestimmung bist, um einerseits die Freiheit zu schützen und andererseits Hegemonie und Totalitarismus zu verhindern.
Jetzt stellt sich für mich persönlich die drängende Frage, bin ich ein Liberaler? Kann ich mit meiner Herkunft ein Liberaler sein? Darüber können Sie im morgigen Beitrag lesen.
PS.: Wenn Sie eine andere Auffassung als ich sind, dann schreiben Sie doch Ihre Meinung, die auf forgsight.com veröffentlicht werden könnte. Ich freue mich auf Ihre Nachricht mit einem Entwurf oder Zusammenfassung Ihres Beitrags unter ksezer@futureorg.de.
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