Retrotrend: Die neue Sehnsucht nach der Heimat

Was Reisen in die Türkei angeht, setzen sich die Enkel der Gastarbeiter klar von ihren Großeltern ab. Dennoch ist in den letzten Jahren wieder ein alter Trend zu beobachten – mit einem kleinen Unterschied. (Foto: dasbiber.at)

Zum Bild der einstigen Gastarbeiter gehörte das Auto mit übergroßem Dachgepäck, mit dem sie sich für Familienbesuche auf den Weg in die türkische Heimat machten. Das Auto war vollgepackt. Nicht nur Kleidung für den Urlaub konnte man in den zahlreichen Gepäckstücken finden, sondern auch zahlreiche Geschenke für Eltern und Großeltern, Brüder und Schwestern sowie für ihre Kinder, für die Onkel und Tanten, für die Nachbarn und Vertrauten, die sich über die Zeit ihrer Abwesenheit um das Feld oder das Haus gekümmert hatten.

Folgen Sie forgsight.com auf FacebookDas Auto als Reiseverkehrsmittel setzte sich allerdings erst in den späten 1970er Jahren durch. Als Reiseverkehrsmittel machte es erst mit einer Familie auch ökonomisch Sinn. Bis dahin waren Züge die bevorzugten Verkehrsmittel. Sie waren nicht nur günstiger. Die damit verbundenen Reisestrapazen konnte ein erwachsener Mann sehr gut aushalten.

Neben dem Auto setzte sich als Alternative der Reisebus durch. Erst später in den 1990er Jahren kam das Flugzeug hinzu. Immer mehr türkische Reise- und Fluggesellschaften wurden gegründet. Die Türkei ist zu einem wichtigen Reisemarkt geworden. Heute ist dieser Markt gewaltig!

Die Binnenmigration in der Türkei verteilte die Familie über das ganze Land

Doch nicht nur die Verkehrsmittel haben sich verändert. Die Türken heute reisen aus ganz anderen Gründen als zu Beginn des Zeitalters der Gastarbeiter. Damals stand der Familienbesuch im Vordergrund. Oft ging es ohne Umwege direkt ins Dorf, von wo die meisten Türken in Deutschland stammten. Mit wenigen Ausnahmen waren dort alle Verwandten versammelt. So konnte es vorkommen, dass aus einem sehr kleinen Dorf im Herzen Anatoliens, das vielleicht ein oder zwei Dutzend Familien zählte, ein sehr großes Dorf wurde, das zeitweise von 4.000 Menschen bewohnt wurde.

Wenn es nicht das Dorf war, dann war es das Wohnquartier in der Stadt oder eben ein Stadtteil in Istanbul. Das Reiseziel war oft geografisch an einem Punkt konzentriert, eben meist dort, wo die Familie überwiegend lebte.

In der Zwischenzeit gab es innerhalb der türkischen Gesellschaft eine gravierende Verschiebung. Durch die zunehmende Binnenmigration verteilten sich die Familien auf die verschiedenen Großstädte. Durch die zunehmende Industrialisierung wurden dort Arbeitsplätze geschaffen, für die Menschen ihre dörfliche Umgebung verließen. Der Urlaub wurde in eine geografische Rangordnung verteilt.

Die ganze Familie ist vielleicht mit dem Flugzeug in Istanbul gelandet, wo man gleich Verwandte besucht hat und für einige Tage geblieben ist. Erst danach ging es ins Dorf oder in die Heimatstadt, wo der Großteil der Zeit verbracht wurde. Wenn sich der Urlaub dem Ende zuneigte, besuchte man weitere Verwandte in anderen Städten, die auf dem Weg zum Flughafen lagen.

Reiseverhalten hat sich dynamisiert und vervielfacht

Eine solche Reise war schließlich kostspielig. Die Familien mussten viel Geld sparen, so dass manche sogar nur alle zwei oder drei Jahre in die Türkei gereist sind. Daher kam es sehr häufig vor, dass die Familien gleich für die gesamte Dauer der Sommerferien reisten. Zeit war daher ein knappes Gut, das überlegt verteilt und geplant werden musste.

In den letzten 50 Jahren haben sich allerdings die Reiseverkehrsmittel und -ziele vervielfacht. Gleichzeitig ist Reisen günstiger geworden. Die Zeiten, in denen eine Familie wie ein Bündel Trauben von Ort zu Ort gezogen ist, um möglichst viele Verwandte wiederzusehen, existieren so gut wie nicht mehr. Das Reisen als Großfamilienereignis gehört der Vergangenheit an.

Heute hat sich das Reiseverhalten von Türken in Deutschland dynamisiert und vervielfacht. Die einstigen Gastarbeiter, die inzwischen Großeltern sind, halten sich von Frühjahr bis Spätherbst in der Türkei auf. Einige von ihnen fahren mit dem Auto dorthin. Über die vielen Monate sind sie nicht nur mobil und können ihre Geschwister oder Verwandten in den anderen Städten bequemer besuchen. Sie können auf dem Rückweg mehr Gepäck mitnehmen als bei Flugreisen erlaubt ist.

Ihre Kinder folgen ihnen im Sommer, wenn sie wiederum schulpflichtige Kinder haben. Ansonsten findet der Urlaub auch zu anderen Zeiten statt. Außerhalb der Urlaubssaison ist es eh alles günstiger. In manchen Fällen reist die Frau mit den Kindern vor, während der Mann sich noch etwas gedulden muss, da er im Betrieb gebraucht wird.

Familienbesuch bleibt wichtig

Familienbesuch ist immer noch sehr wichtig. Da man inzwischen häufiger in die Türkei fliegen kann und auch die Verkehrsinfrastruktur in der Türkei sich wesentlich verbessert hat, kann man die Verwandten auch beim nächsten Mal besuchen. Was früher in sechs Wochen Schulferien absolviert werden musste, kann nun auf mehrere Reisefahrten im Jahr verteilt werden.

Mittlerweile lohnt es sich, für ein paar Tage in die Türkei zu fliegen, um die Hochzeit einer Nichte zu besuchen, sich für die neue Stelle einzukleiden, für die anstehende Hochzeit in Deutschland noch fehlenden Schmuck oder seltene Accessoires einzukaufen, für ein paar Tage am Strand abzuschalten oder eben einen lieben Verwandten zu besuchen, weil man sich beim letzten Besuch nicht hatte sehen können. Die Türkei heute ist für die Europa-Türken eine ganz große Bühne für Familien- und Erlebnistourismus geworden.

Seit wenigen Jahren kommen zum bisher beschriebenen Reiseverhalten zwei neue Dimensionen hinzu: ein Retrotrend und die sozialen Medien.

Auf Facebook wird die ehemalige „Gastarbeiterroute“ gefeiert

Immer mehr Türken aus Deutschland, Österreich, Holland oder der Schweiz fahren wieder mit dem Auto quer durch Südosteuropa in Richtung Türkei. Dabei dürften Flugtickets nicht teurer sein als diese Autofahrten. Galt es früher so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen, ist der Weg selbst zum Teil des Urlaubs geworden.

Einige legen Stopps in Bosnien, Griechenland oder Bulgarien ein, um dort auch diese Länder bewusst zu erleben. Die Fahrt und ihre Stationen werden dank Facebook ausführlich dokumentiert. Beliebt sind auch Fotos mit dem türkischen Grenzübergang als Motiv.

Die sozialen Medien dienen auch zum Informationsautausch: Staus und Baustellen, neue Routen, Unfälle, Warnungen vor Überfällen und kriminellen Banden, empfohlene Restaurant und vieles mehr mehr werden mit der Öffentlichkeit geteilt. Inzwischen gibt es Facebook-Gruppen und Blogs, die sich ausschließlich dieser Fahrt widmen.

Dieser Weg, auch Sıla Yolu genannt, wird als Sehnsucht zelebriert, an dessen Ende die Reisenden mit dem Glücksgefühl belohnt werden, endlich die türkische Heimat erreicht zu haben. (Erstveröffentlichung auf DTJ Online)