Der amerikanische Vordenker George Friedman sagt den Abstieg Deutschlands voraus. Doch dazu muss es nicht kommen. Drei Bedingungen müssen dafür erfüllt werden. (Foto: LG전자)
George Friedman ist ein überragender Analyst, der wie kein anderer Wissen mit Intuition und Vorstellungskraft vereinbaren kann. Daher sind seine Prognosen über zukünftige Entwicklungen erstaunlich präzise. Der Gründer der us-amerikanischen Denkfabrik Stratfor hat vor sieben Jahren das Buch “Die nächsten 100 Jahre” veröffentlicht, in dem er einige Entwicklungen beschrieben hat, die jetzt schon teilweise zutreffen.
Der Versuch Russlands aus seiner geopolitischen Ecke auszubrechen, hat Friedman genau so deutlich vorhergesehen, wie die zunehmenden Unruhen in der chinesischen Bevölkerung. Jenseits der medialen Aufmerksamkeit europäischer Medien gibt es gravierende Unruhen im Osten Chinas, die zunehmen, weil der Staat mit seiner Gewaltbereitschaft noch mehr Öl ins Feuer wirft. Die Entwicklung der Türkei zu einer politischen und militärischen Vormacht über die Region hinaus wird nur noch durch das Ego und die Machtgier ihres Staatspräsidenten gebremst, der Wege sucht, seine Person über die staatliche Souveränität zu stellen. Akteure, die kein Interesse an einer starken Türkei haben, müssen daher nur eins tun: Recep Tayyip Erdogan ermutigen.
Hopfen und Malz für Deutschland verloren?
Und Deutschland? Wenn es nach George Friedman geht, ist im Falle von Deutschland Hopfen und Malz verloren. Spätestens in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird das Land in die Bedeutungslosigkeit abrutschen. Aber genau darin irrt er sich. Das zeigen die politischen Herausforderungen in Europa, in deren Zentren Deutschland – entgegen aller Unkenrufe – eine treibende, gestaltende und vermittelnde Kraft ist.
Jeder Analyst, auch der Beste unter ihnen, hat eine Schwäche. Bei den meisten ist es die Eitelkeit, die den klaren und unbelasteten Blick vernebeln. Bei manchen ist es das Halbwissen. Bei Friedman allerdings ist es seine Biografie. Er und seine Familie haben den Holocaust überlebt.
Nicht nur in seinem Buch “Die nächsten 100 Jahre” sondern auch in zahlreichen anderen Expertisen, Artikeln und Gutachten des Stratfor-Vordenkers schneidet Deutschland schlecht ab. An Stellen, an denen es um Deutschland geht, lese ich keine Analyse sondern einen Wunsch.
Das 21. Jahrhundert wird ein US-amerikanisches sein
Ich stimme seiner Einschätzung zu, dass das 21. Jahrhundert ein US-amerikanisches sein wird. Es wird aber auch ein deutsches und mit ihm folgend ein europäisches Jahrhundert werden. Im geopolitischen Algorithmus der Zukunft ist Deutschland ein fester Wert. Gerade in den vergangenen Krisenjahren Europas war Deutschland eine integrierende Kraft, die das schizophrene Gebilde, wie Friedman Europa bezeichnet, zusammengehalten hat.
Mehr noch: Deutschland hat die Krisenbewältigung nicht angeführt sondern moderiert, weil es keine nationalistischen Ambitionen zugelassen hat. Wie tief diese Verantwortung in der Brust führender deutscher Politiker verankert ist, konnte man erahnen, als Angela Merkel auf der Siegesfeier nach der Bundestagswahl 2013 dem heutigen Gesundheitsminister Gröhe die Deutschlandfahne aus der Hand nahm, und einem Jubelndem an der Bühne übergab.
Wenn man die biografische Komponente in den Analysen und Prognosen von Friedman über Deutschland ausblendet, so sind die harten Daten über die Entwicklungsperspektiven des Landes sehr hilfreich. Daraus ergeben sich drei Handlungsfelder, die für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands Voraussetzung sind:
Diese drei Bedingungen sind wichtig für die Zukunftsfähigkeit
Erstens, ein neues Innovationsregime. Lange Zeit bildete die Industrie das Rückgrat der Innovationsfähigkeit. Doch diese Fähigkeit verlagert sich zusehends von der Industrie in Richtung wissenintensiver Kleinstunternehmen und Unternehmensgründungen.
Zweitens, ein neues Steuerungsregime. Die Steuerung der Gesamtgesellschaft wird komplexer, weil die beteiligten Akteure immer kleinteiliger und vielfältiger waren. Neben staatlichen Institutionen und Parteien ist in den vergangenen Jahrzehnten eine lebendige und vielfältige Zivil- und Bürgergesellschaft entstanden. Auf den “motivierenden” und “moderierenden” Staat wird daher der “supervidierende” Staat folgen, in dem alle Mitglieder an Gestaltung und Lenkung der Gesellschaft beteiligt werden wollen. Die Soziologen Anthony Giddens und Ulrich Beck weisen in ihrer Theorie der reflexiven Modernisierung auf diese Richtung hin.
Drittens, endlich ein Einwanderungsregime. Durch das demografische Problem kann man nicht mehr ignorieren, dass Menschen aus dem Ausland benötigt werden. Ein Einwanderungsregime muss her, das denjenigen einen Platz anbietet, die bleiben wollen, und denjenigen die Tür offen hält, die gehen wollen. Dabei muss das Bild des Einwanderers erweitert werden. Es kommen keine Bittsteller, sondern Ideengeber, Existenzgründer, Brückenbauer, Eltern künftiger Polizisten, Manager, Pflegekräfte, Lehrer, Handwerker u.v.m.
George Friedmans Prognosen über Deutschland sind wertvoll, wenn man sie nicht als Prognosen sondern Gefahrenpotenziale versteht, die man mit den drei Regimemodellen begegnen kann. Voraussetzung dafür aber ist, Veränderungen als eine Chance zu betrachten – und mehr Mut zu wagen. (Eine abgewandelte Version des Essays ist in DIE WELT erschienen.)