Krise an der Eckcouch

Heute steckt die Zeitung in der Krise und wird durch Smartphones unter Druck gesetzt. Der Trend- und Zukunftsforscher Kamuran Sezer ist überzeugt, dass in der Zukunft die Zeitung an Bedeutung zunehmen wird. (Foto: pixabay)

Wenn ich an Zeitungen denke, muss ich an meinen Vater denken. Daran, wie er auf seinem Stammplatz auf der Eckcouch saß und die Zeitung mit den beiden Händen griff, während er seinen linken Ellenbogen auf der Armlehne der Couch abstützte.

Mein Vater hat sehr gerne Zeitung gelesen. Er war sehr fokussiert. Ich wusste, er las gerade einen Artikel, weil er kaum atmete und sich auf der Couch bewegte. Atmete er einmal tief ein, dann wusste ich, dass sein Kopf gleich nach rechts zur nächsten Seite wandern wird. Wenn er sich von seiner Starre löste, wusste ich, dass seine linke Hand zur rechten Hand schweben wird, ohne dass er die Seite, die zwischen seinen Fingern eingeklemmt war, loszulassen. Von der rechten Hand übergab er der Linken die nächste Seite der Zeitung. Mit einem Ruck zog er die Seite nach links. Zeitungen haben nämlich die Gewohnheit, sich in den eigenen Falten und Knicken zu verkeilen. Mit einem Ruck konnten sie glatt gezogen werden.

Ich bin halt der Sohn seines Vaters

Hat eine Nachricht ihn aufgewühlt, dann faltete er die Seite längst und legte sie auf den Tisch so, dass er freihändig den Artikel lesen konnte. Er beugte sich über die Zeitung. Seine Arme verschränkte er dabei vor dem Bauch, die er nutzte, um seinen Oberkörper auf dem Oberschenkel abzustützen. Atmete er mit einem Stoß aus der Nase aus, während er die Mundwinkel verzog, wusste ich, dass eine Nachricht in ihm eine Verzweifelung auslöste. Riss er die Augen auf und hatte den Mund offen, empörte er sich über etwas. Schaute er streng in die Leere, dann musste etwas ganz Schlimmes passiert sein. Und bei kontroversen Themen führte er ein stilles Selbstgespräch. Sein Mund formte Worte, ohne dass welche zu hören waren.

Ich kenne alles diese Gestik und Mimik sehr gut, weil es bei mir nicht anders aussieht. Wenn ich auf meinem Phablet durch die diversen Nachrichten-Apps flippe und wische, schnaufe ich, verziehe die Nase und den Mundwinkel, schaue streng oder führe ein wortloses Selbstgespräch. Ich bin halt der Sohn meines Vaters.

Im Leseverhalten gab es zwischen meinem Vater und mir allerdings eklatante Unterschiede.

Zum einen hat mein Vater nur Hürriyet gelesen, sehr selten Sabah. Diese beiden türkischen Zeitungen waren neben einer türkischen Radiosendung des WDR die einzigen Informationsquellen, die über die Ereignisse aus der Türkei berichteten. Ich hingegen habe dank des Internets eine riesige Auswahl. Ich kann denselben Ereignis aus konservativer, (FAZ), aus sozialdemokratischer (FR), aus grün-alternativer (TAZ) oder aus staatlicher Brille (Tagesschau-App) lesen und bewerten. Viel lieber lese ich Nachrichten-Apps wie Flipboard oder Google Kiosk. Dort finde ich eine Auswahl an Nachrichten im Querschnitt der Medien.

Dauerkonsum, Information-Overkill, Nachrichten-Ticker

Zum anderen war der Informationskonsum meines Vaters endgültig. Er liest, regt sich darüber auf oder macht sich seine Gedanken, macht die Zeitung zu und wird sich, wenn überhaupt, später mit seiner Familie oder Freunden über die Nachrichten unterhalten. Bei mir ist es nicht so. Zu manchen Ereignissen gibt es Live-Ticker. Im Minutentakt präsentiert die Zeitung mir, wie das Ereignis sich verändert hat. Über die Nachricht an sich, kann ich Artikel für dieses oder Artikel gegen jenes lesen, mir die Argumente der Regierung, dann der Opposition und danach der Verbände durchlesen. Und wenn ich mir im Fernsehen die Nachrichten anschaue, werde ich darauf hingewiesen, dass auf der Website des Nachrichtensenders ein Dossier zum Thema bereitsteht – aus Artikeln, Video- und Podcasts. Wenn ich möchte, dann mache ich im Facebook, Twitter und Co. meinen Standpunkt zum Ereignis kund. Mir gefällt’s.

Wie wird es bei meinem Sohn frage ich mich? Ich glaube, mein Sohn wird kein Phablet in der Hand halten wie ich, sondern eine Zeitung wie sein Großvater. Die Zeitung wird aber nicht aus Papier bestehen, sondern aus einer Folie, die gefüllt ist mit elektronischer Tinte, oder E-Ink wie es heißt. Mit Hilfe eines elektrischen Feld auf der Folie der Zeitung wird die elektronische Tinte aktiviert, die sich zu Worten und Bildern bündelt.

Mein Sohn würde nicht durch die Seiten blättern, wie es sein Großvater einst gemacht hat. Er würde durch die Folie mit einem Wisch scrollen, um die anderen Nachrichten zu lesen, und durch die Zeitungen anderer Anbieter blättern. Denn dank des Internets kann man die Inhalte der anderen Medien herunterladen. Ich stelle mir insgesamt vor, dass unterschiedliche Geschäftsmodelle existieren werden. Mein Sohn kann entweder mehrere Zeitungen oder nur Nachrichtensparten abonnieren, die er in Echtzeit herunterladen kann. In Echtzeit werden auch die Nachrichten geliefert.

Die Gefahr einer Meinungsdiktatur

Ich sehe allerdings auch die Gefahr, dass mein Sohn in seiner Meinung viel effektiver manipuliert werden könnte. Während der Text in der Zeitung seines Großvaters einmal gedruckt nicht verändert werden kann, könnte ein Artikel, den mein Sohn im Begriff ist zu lesen, jederzeit angepasst werden. Während er die Friedensbotschaft des Bundeskanzlers liest, mobilisiert Russland wieder einmal sein Militär und bedroht die EU. Noch bevor mein Sohn zum Ende des Artikels gelangt, wird in Echtzeit der letzte Satz geändert in “… und um den Frieden in Europa zu wahren, habe ich in Abstimmung meiner Kollegen die Mobilmachung der Noteinsatz-Truppen gefordert.” Das wäre schon eine gravierende Meinungsdiktatur.

Aber mein Sohn wird in einer Demokratie leben, die genauso in Echtzeit ablaufen wird, wie die Inhalte seiner Zeitung auch. Denn auf die Mobilmachung des Bundeskanzlers folgen prompt die Stellungnahmen der Opposition und der betroffenen Verbände und Initiativen, die auf seiner Zeitung eingeblendet werden. In so einem Krisenfall muss die Stimmung im Volk eingeholt werden. Auf der Folie seiner Zeitung erscheint eine Umfrage, die um die Meinung des Bürgers bittet. Mein Sohn muss nur noch seinen Finger auf das Feld mit “Ja” oder “Nein” ablegen. Der Fingerabdruck, der dabei gescannt wird, wird die Antwort meines Sohns autorisieren. Es ist aber ein schwerwiegendes Thema. Daher entschließt sich mein Sohn, auch an der Video-Umfrage teilzunehmen. Über die in der Folien seiner Zeitung integrierten Kamera führt er seine Argumente für seine Meinung auf. Ein Computer wertet dann die Meinungsbeiträge von tausenden Bürgerinnen und Bürger aus. Big Data sei Dank! Am Ende werden die Meinungen der Bürger zu Meinungsgruppen zusammengeführt und so die Haltung des Volks sichtbar gemacht.

Wie auch immer mein Sohn in der Zukunft seine Nachrichten konsumiert, es würde mich nicht überraschen, ja sogar sehr freuen, wenn er mit den Augen und Mundwinkeln wie sein Großvater gestikuliert und durch die Nase schnauft, während eine Nachricht ihn ärgert oder Freude bereitet.