Ländliche Regionen sind von den Folgen der demografischen Entwicklung stärker und intensiver betroffen als Städte. Einwanderung stellt eine Lösung dar. Aber dafür muss der Einwanderungsbegriff weiter gefasst werden, so Kamuran Sezer in einem Vortrag auf dem Jahresempfang im Kreis Lippe.
Blickt man in die Medien, scheinen die Probleme, die Städte und Metropolregionen zu bewältigen haben, eine höhere Priorität zu genießen. Die Entwicklung der ländlichen Regionen dabei ist mindestens genauso wichtig, vielleicht sogar bedeutender. Denn die Lösungen für die Probleme der Städte findet man möglicherweise auf dem Land.
Früher war wirklich alles viel einfacher
Wenn in den Städten überteuerter Wohnungsraum ein Problem ist, aber auf dem Land Wohnungsleerstand das andere Problem darstellt, dann weist dieser Zustand darauf hin, dass zwischen Stadt und Land Ressourcen und Infrastruktur nicht optimal genutzt werden. In der Tat gibt es dazu eklatante Zusammenhänge, die in den Bereichen Verkehr, Gesundheit oder Bildung beobachtet werden können.
Überhaupt – Veränderungen sind kein Produkt des Zufalls. Diesen Standpunkt hat Kamuran Sezer auf dem Jahresempfang in Kreis Lippe vertreten. Weil Veränderungen nicht zufällig entstehen, können sie erkannt und vorhergesehen werden. Die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft hat sich nicht nur von einer Industrie- zur Wissensgesellschaft entwickelt. Sezer demonstrierte auch, dass in diesem Veränderungsprozess, die Art, wie wir leben, produzieren und wohnen, nach einer bestimmten Muster sich verändert hat:
Früher war alles einfacher. Diese umstrittene Weisheit hat mit Blick auf Deutschland durchaus seine Berechtigung. Die Großindustrie erleichterte die Plan- und Steuerbarkeit der Gesellschaft enorm. Mit einem Arbeitgeber, einer Verwaltung, einer Gewerkschaft konnte die Lebens- und Arbeitsqualität von Tausenden Mitarbeitern, Familien und Haushalten mit einer industriegeprägten Politik auf einem Schlag verbessert werden. Mit der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft und schließlich zur Wissensgesellschaft hat die Zahl der Gruppen sich nicht nur vervielfacht sondern sie sind auch kleinteiliger geworden. Der Koordinationsaufwand ist gestiegen.
Wie aus einem Loch ein Konglomerat aus Dienstleistungsbetrieben und Freizeitangeboten wird
In seinem Vortrag führt er das Phoenix See in Dortmund als Beispiel auf. Einst das größte Eisenhüttenwerk in Europa stieß das Industrieunternehmen in den 1970er Jahren erstmals auf große Krisen, die zur Verringerung der Arbeitnehmerzahl, Auslagerung von Produktionsbereichen und Gründung von Dienstleistungsbetrieben führten. Mitte der 1990er Jahre musste das Werk auch aufgrund der weltweiten Konkurrenz schließen. Über Nacht haben über 30.000 Menschen ihre Arbeit verloren. Später wurde das Werk an ein chinesisches Unternehmen verkauft, das es bis zur letzten Schraube abgebaut hat, um es dann in China wieder aufzubauen.
Übrig blieb ein großes Loch, aus dem später der Phoenix See werden sollte. Dort wurden nicht nur Luxusvillen gebaut, sondern auch ein Gesundheitszentrum, mehrere Bürokomplexe und zahlreiche Gastronomiebetriebe. Später wird eine Kultureinrichtung hinzukommen. Heute schon kann man aber dort das Segeln lernen und Mitglied in einem Yachtclub werden. Aus einem Industrieunternehmen wurde ein Konglomerat aus den unterschiedlichsten Unternehmen, Bevölkerungsgruppen und Interessengruppen.
Sicher – die Schließung des Eisenhüttenwerks vor 20 Jahren war ein großer Schock für die Beschäftigten, die Stadtverwaltung und die Stadtgesellschaft. Aber wo Schatten ist, muss auch eine Sonne sein, so Sezer in seinem Vortrag. Aufgrund dieser Krise gehörte Dortmund, die das Eisenhüttenwerk beheimatete, zu den ersten Städten im Ruhrgebiet, in dem der Strukturwandel augenscheinlich eröffnet wurde. Aus der Krise sind eine gut funktionierende Wirtschaftsförderung, eine Start Up-freundliche Verwaltung und das größte Technologiezentrum in Europa erwachsen. Das sind Entwicklungen, die andere Ruhrgebiets-Städte seit einigen Jahren erst absolvieren.
Zukunftsforschung bedeutet, Muster in den Veränderungen erkennen
Die Aufgabe der Zukunftsforschung sei daher nicht die Vorhersage künftiger Ereignisse, sondern das Erkennen von Mustern und Gesetzmäßigkeiten in den stattfindenden Veränderungsprozessen. Und das ist die große Herausforderung für die ländlichen Regionen, so Sezer.
Die demografische Entwicklung sieht er dabei als einen Schlüsseltreiber für die ländlichen Gebiete an. Besonders sie sind von den Effekten der demografischen Entwicklung früher und stärker betroffen als Städte und Metropolregionen. Denn immer mehr Menschen ziehen in die Städte, wo Arbeit, gute Versorgung und günstige Verkehrsanbindungen existieren, die das Leben leichter machen.
Wo keine Menschen, führte Sezer in seinem Vortrag an, da kein Absatzmarkt. Wo kein Absatzmarkt, da kein Unternehmen. Wo kein Unternehmen, da auch keine Menschen. Hier ist eine Wirkungsspirale zu Ungunsten von ländlichen Regionen eröffnet. Einwanderung, besonders im Lichte der aktuellen Flüchtlingswelle, wird dabei als eine Chance begriffen, um das notwendige Humankapital zu mobilisieren. Das sei definitiv eine Chance, so Sezer, empfahl aber den Einwanderungsbegriff auszuweiten.
Einwanderungsbegriff auf Stadteinwohner erweitern
Nicht nur Menschen mit dem bekannten Migrationshintergrund sind eine stille Reserve, die mobilisiert werden können, um die demografiebedingten Probleme ländlicher Regionen zu lindern. Auch die Stadtmenschen sind eine ebenso wichtige Quelle, die ländliche Regionen anzapfen könnten. Wichtig sei dabei, dass die Einwanderung, egal aus der Stadt oder aus dem Ausland, eine sinnstiftende Grundlage vor Ort benötigt. Menschen wandern dorthin, wo Ähnliches oder Gleiches bereits vorliegt. In der Migrationsforschung spricht man dabei von “Migrationssystemen”.
Die Türken und Kurden aus der Türkei haben Deutschland bevorzugt, weil die Pionier-Einwanderer, sprich die Gastarbeiter, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Grundlage geschaffen haben. Aus ähnlichen Gründen ist die Schweiz ein beliebtes Auswanderungsziel für die Deutschen, die dort von einem Netz aufgefangen werden, das die deutschen Pionier-Einwanderer errichtet haben. Hinzu kommen sprachliche und kulturelle Ähnlichkeiten, die das Ankommen erleichtern.
Businessplan statt Konzepte
Kamuran Sezer schlägt ländlichen Regionen daher vor, statt Konzepte zu schreiben, einen Businessplan zu erstellen, in dem Produkte der Region, die Wettbewerbssituation im Kontext umliegender Regionen und Städte, den Alleinstellungsmerkmalen, Arbeitsmarkt-, Absatz- und Wirtschaftsstrukturen systematisiert und quantifiziert werden, um hieraus ein attraktives Angebot an die potenziellen Einwanderer aus dem Ausland und aus den umliegenden Städten aufzustellen.
Welche Muster und Gesetzmäßigkeiten hinter den Veränderungsprozessen auch stecken mögen, Sezer empfiehlt sich immer bewusst zu machen, dass Veränderungen nicht nur schlecht sein können, sondern auch immer etwas Gutes in sich tragen, die als Chance begriffen und erkannt werden müssen.