Im gesellschaftspolitischen Diskurs um Einwanderung und Zusammenleben weisen nur Tragödien auf Normalität hin. Glauben Sie mir das nicht!? (Foto: cn)
– von Nilgün Dağlar-Sezer
Nun, betrachtet man nur die Spiegel-, Fokus- und Stern-Cover zum “Islam” der letzten zehn Jahre, wird einem Angst und Bange im Abendland. Darauf hat nicht zuletzt der Kabarettist Hagen Rether in einer Silvester-Gala hingewiesen. Hinzu kommen populärwissenschaftliche Abhandlungen zu Ausländern von Necla Kelek, Thilo Sarrazin und Co., die persönliche Ressentiments gegen das Fremde publizistisch geschickt aufarbeiten, konservative und rechtspopulistische Kleinbürger-Kreise damit bedienen und nicht zuletzt durch Katastrophen-Berichte von gescheiterten Existenzen mit Migrationshintergrund einen heiden Umsatz machen.
Wenn die Darstellungen von Sarrazin, Kelek und Co, nicht die Normalität darstellen, wie ich behaupte, was ist dann der Normalfall?
Wenn Details über Tuğçe Albayrak beispielweise zu Tage treten, einer lebensfrohen Person, die beispiellosen Einsatz gezeigt hat, um zwei jüngeren Mädchen zu helfen, die von jungen Männern nachts auf einer MCDonalds-Toilette bedrängt werden. Wenn man sich die Familie in den wenigen Fotos anschaut, die in den Medien kursieren, kann man ahnen, welche Abweichungen es zu den Klischees über türkische Mädchen gibt. Der Bruder Tuğçes, der von den gemeinsamen Fahrten mit der Bahn zur Uni berichtet, die beide gemeinsam besucht haben. Wenn bei der Beerdigung eine zwanglose Symbiose aus alevitischem Glauben und sunnitischer Tradition entsteht, dann erhält man einen tiefen Einblick.
Oder ein anderes Beispiel: Wenn von Diren Dede die Rede ist, der als deutscher Austauschschüler in den USA tragisch zu Tode kommt. Er wird in der Garage eines Hausbewohners von diesem erschossen. Wir erfahren, dass er leidenschaftlich Fußball spielte und seine Mannschaft und Mitschülerschaft nun um ihn trauert. Wir sehen auf den Bildern einen smarten brünetten jungen Mann, der selbstbewusst in die Kamera blickt.
Oder wenn in den wenigsten Zeitungen davon berichtet wird, dass ein deutsch-türkisches Ehepaar in München auf dem Weihnachtsmarkt von mehreren Nazis verprügelt und schwer verletzt wird. Wir erfahren, dass sie Weihnachtsgeschenke für die christlichen Familienmitglieder einkaufen waren, sehr geschockt sind von der Attacke und die deutsche Ehefrau als “Hure” beschimpft wurde.
Oder wenn man sich die NSU-Opfer anschaut und sich ihre Familien vor Augen führt, wie sie ihr Leben bestritten haben, mit welchen Lebensbedingungen sie konfrontiert waren. Wie sehr die Eltern der Opfer um eine zufriedenstellende Existenz gekämpft haben, damit es die “Kinder mal besser haben” als sie selbst.
Es gibt noch unzählige Beispiele. Immer, wenn eine unfassbare Tragödie passiert und Geschädigte einen Migrationshintergrund haben, erfahren Umstehende erst dann den Normalfall: wie Menschen anderer Herkunft leben und arbeiten, wie wenig die Wünsche und Ängste von den eigenen abweichen. Das türkische Brüder selten ihre Schwestern ermorden, binationale Familien das Weihnachtsfest bestreiten, Menschen aus schlecht bezahlten Berufen ausbrechen und Eigeninitiative zeigen, Unternehmen gründen. Dass auch türkische Familien ein Interesse an einer internationalen Ausbildung ihrer Kinder haben.
Doch wieso weisen Tragödien auf Normalität?
In der empirischen Sozialforschung gelten Stichproben dann als “repräsentativ”, wenn sich die ausgewählten Fälle nach dem Prinzip der Zufälligkeit ergeben. Das heißt vereinfacht ausgeführt, ich führe 30 Interviews zum Thema “Berufseinsteiger/innen im Bankenwesen” durch. Wähle ich die 30 Kandidat/innen zufällig aus, sind die Ergebnisse aus der qualitativen Forschung verallgemeinerbar. Wähle ich für eine standardisierte Fragenbogenerhebung zum Thema “Landwirte in NRW und Niedersachen” 300 Landwirte aus NRW und Niedersachsen zufällig aus, ist die Studie repräsentativ. Zumal davon ausgegangen werden muss, dass die Grundgesamtheit bei dieser Stichprobe nicht allzu groß ist. Ich darf Personen, die die Zielgruppe abbilden und an der Umfrage teilnehmen möchten also nicht aussortieren, weil mir ihre Nase oder die Haarfarbe nicht passt oder weil ich sie nicht sympathisch genug finde.
Man kann davon ausgehen, dass Schicksalsschläge, Überfälle und andere körperliche Angriffe durch Fremde zufällig erfolgen. Es gilt der Grundsatz “zur falschen Zeit am falschen Ort”. Das veranschaulichst der Mord am Blumenhändler Enver Şimşek, der am Tag seiner Ermordung durch die NSU-Terrorzelle tatsächlich kurzfristig als Urlaubsvertretung einsprang ganz besonders. Somit bilden Opfer von Gewalttaten durch Fremde mehr oder weniger Zufallsstichproben der Bevölkerung.
Diese Beispiele zeigen, dass erst durch Tragödien die Öffentlichkeit erfährt, wie eine herkömmliche Familie mit Migrationshintergrund tatsächlich lebt und die Sorgen des Alltags bestreitet. Und wie unterschiedlich die Lebensentwürfe eben dieser sein können. Diese herkömmliche Vielfalt, die ich als Normalität bezeichne, wird in der deutschen Integrations-Berichterstattung nicht abgebildet, weil Medienleute ihre Fälle nicht nach einer Zufallsstichprobe ziehen.