GASTBEITRAG. Die gestrigen Parlamentswahlen beenden die Ära der AKP-Alleinherrschaft und bestätigen, dass die türkische Demokratie reifer ist, als so mancher „Experte“ vermutet hat. Sie bedeuten aber vor allem ein Fiasko für den „starken Mann“ der türkischen Politik: Recep Tayyip Erdoğan. (Bild: Myrat)
Am gestrigen Sonntag haben knapp 46 Mio. Wähler der Türkei (bei einer hohen Wahlbeteiligung von ca. 85 Prozent) gesprochen – und die Aussage ist unzweideutig: Knapp 60 Prozent haben der allzu selbstsicheren, in die Macht und den schier unaufhaltsamen Erfolg verliebten Regierungspartei AKP, die das Land seit 2002 zunächst in eine Phase der inneren Reformen, dann zunehmend in eine Phase der Reformermüdung und des rasch eskalierenden Demokratieverlusts geführt hatte, eine ins Orange changierende „gelbe Karte“ gezeigt. Diese Karte heißt: Schluss mit dem Abbau von Demokratie und Rechtsstaat, Schluss mit dem Abgleiten der Türkei in Autoritarismus und Byzantinismus.
HDP noch mit kurdischem Image hat aber Potenzial in den Städten
Die AKP verliert (mit 40,7 Prozent der Stimmen) mehr als 9 Prozent an Wählerzustimmung und wird zukünftig im 550-köpfigen Parlament nur noch 258 Abgeordnete stellen. Vom Wählerswing profitieren die politisch relevanten Oppositionsparteien in sehr unterschiedlicher Weise. Die noch immer in einem inneren Reformprozess gefangene, sozialdemokratisch orientierte CHP konnte ihren Stimmenanteil zwar marginal erhöhen, sieht (mit 131 Mandaten) ihr Ergebnis von 2011 aber leicht vermindert. Anders die rechtsnationalistische MHP, die offenkundig von den Vorbehalten vieler konservativ-nationaler Wähler gegen den Friedensprozess mit den Kurden profitieren konnte: Sie steigert ihren Stimmenanteil (um 3,5 Prozent) auf 16,5 Prozent und ihre Mandatszahl von 53 auf 81 – das zweitbeste Ergebnis der Parteigeschichte.
Als „Wahlsieger“ darf sich jedoch zweifellos die – in den Medien häufig als „pro-kurdisch“ figurierende – HDP feiern lassen. Mit großem Mut und „jugendlichem“ Elan, vor allem aber im Vertrauen auf die Strategie, sich vom rein kurdischen Image zu lösen und sich als moderne, linke Alternative für all jene Teile der Bevölkerung zu präsentieren, die den islamisch geprägten konservativ-autoritären Charakter der AKP-Herrschaft „satt“ haben, hat die HDP einen geradezu „historisch“ zu nennenden Erfolg errungen. Die HDP hat es nicht nur geschafft, die – von vielen als kaum überwindbar betrachtete – 10 Prozent-Sperrhürde des türkischen Wahlsystems zu meistern, sondern sich 80 Mandate aus vielen Regionen des Landes zu sichern. Natürlich bleibt die HDP zuallererst Wahloption für das kurdische Bevölkerungselement, was die Ergebnisse gerade der Wahlbezirke Ostanatoliens belegen. Aber die Wahlresultate der städtischen Agglomerationen der Westtürkei zeigen, dass sich die Partei auch hier hat etablieren können. Mit der HDP und ihrem – für die türkische Politik – jungen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş ist auch in Zukunft zu rechnen.
Das Volk wird nicht zulassen, dass Erdoğan die Türkei unregierbar macht
Hat auch der Wahlverlierer einen Namen? Ja, und er heißt nicht Ahmet Davutoğlu, amtierender AKP-Vorsitzender und Premier. Sein Name lautet vielmehr eindeutig: Recep Tayyip Erdoğan! Auch wenn dieser persönlich nicht zur Wahl stand, sondern sich nur – in „freier Interpretation“ eindeutiger Verfassungsbestimmungen – als Hauptwahlkämpfer seiner (früheren!) Partei selbst auserkoren hatte, kann dieses Wahlresultat nicht anders gedeutet werden, als eine klare Botschaft an jenen Politakteur, der in den letzten Wochen wie kein zweiter zugespitzt, polarisiert, ja gehetzt hatte. Opposition, die Gülen-Bewegung, die freien Medien, der „heuchlerische“ Westen: Nahezu nichts entging dem Bashing von „Tayyip“.
Nachdem das Elektorat zwei Wahlen verschlafen zu haben schien, in denen man deutliche Zeichen des Korrekturbedarfs hätte setzen können/müssen: Am 7. Juni 2015 hat die große Mehrheit der Bürger der Türkei ihrem Präsidenten gesagt, was sie von seinem Lieblingsprojekt „Präsidialdemokratie“, was sie von seiner religiös gefärbten Demagogie und was sie schließlich von der – von Erdoğan mit aller Leidenschaft betriebenen – Aufspaltung der Gesellschaft in „gute (sunnitische) Türken“ und „Verräter/Handlanger der Feinde der Türkei“ hält – nämlich gar nichts. Man wird es nicht zulassen, dass Erdoğan die Türkei nun unregierbar macht , um seine autoritären Zukunftsträume doch noch Realität werden zu lassen.