“Sie kommen hinzu, nicht herein.”

In ihrem Hausmodell haben Ralf Dahrendorf und Reiner Geißler die deutsche Gesellschaft beschrieben. Dabei wurden Einwanderer außerhalb des Hausmodells abgebildet, die zwar im Land sind aber trotzdem nicht dazu gehören. Dieses Bild prägt nach Auffassung von Nilgün Dağlar-Sezer die deutsche Integrationsdebatte auch heute noch. (Foto: M.Moldvay / www.v-like-vintage.net)

Der zweite Weltkrieg ist seit über einem Jahrzehnt Geschichte, die Wirtschaft möchte mit frischer Arbeitskraft abheben. Die Anwerbung von so genannten “Fremdarbeitern” beginnt. Von rechtswegen regelt ein “Ausländergesetz” von 1965 an den Zuzug von Menschen aus dem Ausland. Das Gesetz fußt auf der “Ausländerpolizeiverordnung” aus dem Jahr 1938, die wiederum regelte, dass Ausländer auf dem Gebiet des Deutschen Reiches sich der Gastfreundschaft der Inländer als würdig erweisen mussten. Kommt daher der spätere Ausdruck “Gastarbeiter”?

Folgen Sie forgsight.com auf FacebookWas für eine Gesellschaft haben wir zu diesem Zeitpunkt? Ralf Dahrendorf hat ein Modell skizziert, das vorhandene soziale Schichten darstellen soll. Das Modell zeigt die deutsche Gesellschaft der 1960er Jahre. In einem vertikal aufgestellten “Balken” steht die Namensgebung in einem hausähnlichen Gebilde: “Falscher Mittelstand”. Der Rest ist fast nur horizontal gestapelt: Unterschicht, Arbeiterschicht. Ab der Mittelschicht beginnt das Dachgeschoss, die wenigen Eliten sitzen im Dachstuhl. Eine Malocher-Gesellschaft mit steilen Hierarchien, wenn man so will. Und historisch höchst hitzig: Der Vietnamkrieg tobt, die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre stehen unmittelbar bevor. Es ist eine Zeit, in der Frauen noch die Erlaubnis ihrer Ehemänner brauchten, um erwerbstätig sein zu dürfen. Noch sind die Grünen als Partei nicht in Erscheinung getreten, Deutschland hat sich noch nicht wiedervereinigt, die Einwanderung aus den konfliktträchtigen Balkanregionen und deutschstämmige Familien aus osteuropäischen Ländern sind noch nicht nach Deutschland gekommen.

Anfänge des aktuellen “Zuwanderungsgesetz”

Ende der 1990er-Jahre dann die Besinnung, dass das Gesetz einfach zu alt ist, auch, wenn es zwischendurch etwas modifiziert wurde. Der Ausländeranteil, also die Quote von Menschen ohne deutschen Pass an der Wohnbevölkerung, liegt nun laut Ausländerzentralregister bei fast 9 Prozent (1994). Ausländer sind jünger, ihr Anteil an denen, die noch im Bildungssystem verweilen, ist höher. Sie sind als Konsumierende interessanter, häufiger noch im Erwerbsleben und auch häufiger von Armut bedroht. Arme Malocher, denen die Arbeitslosigkeit droht, wenn man so will. Rainer Geißler überarbeitet Ralf Dahrendorfs Hausmodell: Zur deutschen Arbeiterschicht und zur deutschen Unterschicht kommen die Ausländer dazu, in einer dunkleren Farbe als Rechtecke angehängt. Der “Ausländerstreifen” wird nach oben hin schmaler und endet abrupt im 3. Stock des Hauses, wo es eigentlich spannend wird mit der oberen Mittelschicht und den Machteliten.

Hausmodell nach Dahrendorf / Geißler

Im Jahr 2001 stellt die Süssmuth-Kommission ihren Bericht zum Thema Einwanderung und Einwanderungsbedarfe Deutschlands vor. Er trägt den Titel: “Zuwanderung gestalten – Integration fördern”. Lange war über die Begrifflichkeiten gestritten worden, Konservative verbaten sich den Ausruf, dass Deutschland ein Einwanderungsland sein könne. Doch der Begriff “Zuwanderung” war ein guter Kompromiss: Menschen ohne deutsche Wurzeln sind irgendwie dabei, bleiben aber der halbe Migrantenstreifen in Geißlers Hausmodell. Sie kommen “hinzu”, nicht “herein”. Sie gehen nicht in der Gesellschaft auf, sondern bleiben eine Randnotiz. Auch 2014 wird dieses  Hausmodell noch durch “Anbauten” links und rechts modifiziert.

Ein Begriff etabliert sich

Misst man die Häufigkeit der Verwendung “Zuwanderung” oder “Zuwanderungsgeschichte”, nimmt sie seit den 2000er Jahren in wissenschaftlichen, öffentlichen und politischen Publikationen rapide zu. Ist eine Migration noch nicht als Tat vollzogen, ist der Begriff möglicherweise logisch, da die Ankommenden zu Beginn sicherlich eine Eingewöhnungsphase  brauchen, also erst dabei sind, und nicht mitten drin. Das kennen alle, die in eine neue Stadt ziehen und erst schauen müssen, welcher Bäcker die leckersten Brötchen backt und welche Strecke zur Arbeit die kürzeste ist.

“Zuwanderungsgeschichte” ist da schon brisanter, da es hier nicht um “Neuankömmlinge” geht und auch nicht unbedingt um welche, die selber hergekommen sind. Sollen diese denn auch “dazu kommen” oder “dabei sein”? Es klingt so, als wenn diese Menschen auf der Linie verweilen sollen zwischen “Ausländern” und allen anderen. So sucht beispielsweise im Jahr 2014 das Schulministerium NRW mehr “Lehrinnen und Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte”. Wie diese umworbenen Leute sich bildlich gesprochen an das schon recht steile Dach des Hauses als Puffer zwischen zwei Gruppen dranheften sollen, zudem noch als Beamtinnen und Beamte im Staatsdienst, bleibt mir ein Rätsel. Die Fremdarbeiter hatten es da 1965 einfacher.

 

1 Kommentar zu “Sie kommen hinzu, nicht herein.”

  1. Hallo

    Ich hätte da eine für mich eine ungeklärte Frage. In meinem Studium behandel ich gerade das Thema Soziale Ungleichheit im Bezug auf die Modelle von Dahrendorf und Geissler. Ab wann kann ich bei Ausländer von Ungleichheit sprechen? Im Grunde genommen können auch Menschen aus anderen Ländern in Deutschland sich sprachlich fortbilden,ihren Kindern Schulbildung ermöglichen und sich für andere öffentlich zugängliche Kuturgüter begeistern. Ist also mit sozialer Ungleichheit gemeint, dass diese Menschen nicht menschlich unterstützt und aufgebaut werden? Oder dass die im Moment laufende Förderprogramme doch nicht alles abdecken?

    Ich würde mich über eine Antwort freuen.

    Mit freundlichen Grüßen Sarah

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  1. forgsight.com – Völkerwanderung: Die Quadratur der deutschen Einwanderungspolitik

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