Auch die Einwanderercommunity bleibt von familiären Zerfallserscheinungen nicht verschont. Viele ältere Muslime müssen sich auf einen Lebensabend in fremder Pflege einrichten. Diese Situation macht eine gemeinsame Kraftanstrengung nötig. (Foto: forg)
Rukiye Bölük
Die Integrationsdebatte in Deutschland läuft wie immer auf Hochtouren. Studien diagnostizieren ad nauseam die angeblich gescheiterte Integration vermeintlicher Bildungsversager mit Migrationshintergrund. Auch der Versuch, einen Zusammenhang zwischen dem Glauben eines Menschen und seiner „Integrationsbereitschaft” herzustellen, ist inzwischen eine beschämende Selbstverständlichkeit in medialen Diskursen geworden. Während sich die so nicht selten ins Groteske abgleitende Integrationsdebatte mit diesen Fragen beschäftigt, gerät dabei eine Gruppe in Vergessenheit: Die Migrantinnen und Migranten der ersten Generation.
Unter welchen Bedingungen verbringen diese Menschen ihren Lebensabend und mittels welcher Hilfen wird der Alterungsprozess begleitet? Wie können strukturelle Angebote für die Angehörigen der ersten Einwanderergeneration aussehen? Und existieren in der Einwanderergesellschaft bereits Strukturen, innerhalb derer professionelle Leistungen der Altenpflege erbracht werden können? Das sind nur einige Fragen zu einem überfälligen und viel zu zaghaft diskutiertem Thema.
Zunehmende Diversität in der alternden Gesellschaft
Die Annahme, dass Migrantinnen und Migranten der ersten Generation ihren Lebensabend in ihrer Heimat verbringen würden, ist nicht eingetreten. Dies hat zur Folge, dass heute etwa 20% aller über 65-Jährigen einen Migrationshintergrund aufweisen, wobei die Hälfte dieses Bevölkerungsteils aus den damaligen Anwerbeländern stammt. Diese werden im Laufe der nächsten Dekade das 80. Lebensjahr erreichen. Infolgedessen ist auch ein steigender Pflegebedarf innerhalb dieser Gruppe zu erwarten.
Wie als bekannt vorausgesetzt werden dürfte, war diese Generation in hohem Maße gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt, die zu einem beschleunigten Alterungsprozess geführt und somit das Risiko zur Pflegebedürftigkeit vervielfacht haben. Im Falle einer Pflegebedürftigkeit im Alter können beispielsweise türkische Migrantinnen und Migranten derzeit – noch – auf familiäre Ressourcen zurückgreifen. Es wird jedoch eine Abnahme der familiären Unterstützungspotenziale erwartet, da sich die Lebensentwürfe der zweiten und dritten Generation vielfach bereits von traditionellen Rollen und Mustern distanziert haben.
Individualisierungsprozess ist in der Einwanderergesellschaft eingetreten
„Eine Mutter kann zehn Kinder versorgen, aber zehn Kinder können nicht eine Mutter versorgen”, heißt es in einem türkischen Sprichwort und so hart es auch klingen mag, scheint dieses sich zu bewahrheiten. Denn verlängerte Bildungs- und Berufsbiografien, die steigende Anzahl erwerbstätiger Frauen und der Wunsch, ein nahezu vollständig unabhängiges und selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, sind Faktoren, die sich negativ auf Pflegefälle in Familien auswirken. Dadurch werden die Nachfrage nach und die Inanspruchnahme von migrantenfreundlichen Angeboten im Bereich der Altenhilfe zunehmen.
In Anbetracht dessen lautet die zentrale Frage: Inwiefern kann die zweite und dritte Einwanderergenerationen unter den Bedingungen der modernen Lebensführung die Ansprüche und die Versprechen des Generationenvertrages erfüllen?
Mission: Generationenvertrag einlösen
Der Generationenvertrag beschreibt implizit die Beziehungen und gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Generationen. Zu den elementaren Aufgaben gehört zum Beispiel die Pflege und Sorge der Älteren für den Nachwuchs. Andererseits hat auch die junge Generation die Verantwortung für die Alten, um ihnen einen glücklichen und gesicherten Lebensabend zu gewährleisten. Die Elemente des Generationenvertrags finden auf drei Ebenen statt: In den Familien, in den Nachbarschaften und in den öffentlichen Verwaltungen der Kommunen oder des Staats. Scheitert oder reicht die erste Anlaufstelle nicht, greift man auf die zweite zurück. Scheitert oder reicht diese auch nicht, dann bleibt keine andere Wahl, als sich in „fremde” Hände zu begeben.
Pflegefälle: Herr Max und Mehmet Bey
Im Falle einer Pflegebedürftigkeit im Alter bedeutet dies für einen deutschen Pflegebedürftigen, nennen wir ihn Herr Max, dass seine Familie nach einem ambulanten Pflegedienst oder einem stationären Pflegeheim in naher Umgebung suchen werden. Dort kann er wie über die Jahre gewohnt morgens um 7:00 Uhr sein mit Schinken belegtes Brötchen zum Kaffee essen oder mittags mit der Pflegeschwester Lieder singen, Gedichte lesen und über die alten Zeiten plaudern.
Es fehlen flächendeckende Angebote
Angenommen, es wird nicht Herr Max, sondern Mehmet Bey pflegebedürftig, der einst als junger und gesunder Arbeiter nach Deutschland eingewandert ist: Inwiefern ist die Aufnahme dieser Person in den Pflegealltag deutscher Altenheime und -dienste vorstellbar? Darf er den traditionell gekochten türkischen Tee zum Frühstück erwarten oder wird er sich doch mit dem Beuteltee zufrieden geben müssen? Wird er denn seine anderweitigen Wünsche und Belange artikulieren können? Vielleicht wird er die deutsche Sprache, die er ohnehin schon schlecht gesprochen hat, im Laufe seiner demenziellen Erkrankung verlernen und für den Rest seines Lebens seitens des deutschsprachigen Personals unansprechbar bleiben. Und kann das Personal ihm bei seinen Waschritualen, die er vor Gebeten absolvieren muss, helfen? Diese sind lediglich plakative Beispiele dafür, mit welchen Situationen Pflegende bereits konfrontiert sind und in naher Zukunft häufiger in Konflikte geraten werden.
Inwiefern sich die Pflegedienste auf diese und weitere denkbare Situationen eingestellt haben, ist eine elementare und berechtigte Frage. Fakt ist jedoch, dass trotz der Vielzahl von Pflegefällen die Angebote der Altenpflege durch Migrantinnen und Migranten selten in Anspruch genommen werden. Insbesondere strukturelle Barrieren vereiteln den Zugang zu den Angeboten der Altenpflege, da den Migrantinnen und Migranten seitens der Pflegedienste selten nachvollziehbare Informationen zur Verfügung stehen. Niedrigschwellige Anlaufstellen und Leistungen sind bereits in einigen Städten vorhanden, es fehlen jedoch flächendeckende Angebote.
Alternative Wohn- und Pflegezentren sind gefragt
Es gibt einzelne Projekte auf kommunaler Ebene, in denen man die migrantische Klientel bereits erkannt und sich im Ansatz auf diese eingestellt hat. Die so genannte kultursensible Altenhilfe kann aber aufgrund fehlender oder falscher Informationen zu den Lebenswirklichkeiten der migrantischen Klientel nicht in befriedigendem Umfang und mit der zu erwarteten Professionalität realisiert werden. Dazu muss noch angeführt werden, dass Pflegeheime nicht nur dazu da sind, den Körper zu pflegen, sondern auch, um eine gemütliche Atmosphäre für die Seele zu ermöglichen. Nicht umsonst werden in der Türkei die Pflegeeinrichtungen „Huzur Evi”, also „Haus der Gemütlichkeit” oder „Haus der Zufriedenheit” genannt. Vor dem Hintergrund des weiter steigenden Pflegebedarfs und der fehlenden Professionalität bereits vorhandener Angebote ist die Entwicklung gemütlicher Wohn- und Pflegekonzepte für pflegebedürftige Migrantinnen und Migranten eine fundamentale Notwendigkeit und damit eine Zukunftsherausforderung, die heute erfüllt werden muss.
Vorbild Diakonie: Islamische Gemeinden als Zentrum der sozialen Dienste
Große Migrantengruppen in Deutschland könnten zum Beispiel für Senioren mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechend ihrer eigenen Biografie und Migrationserfahrung sinnvolle Wohn- und Pflegemöglichkeiten ins Leben rufen. Wie die Diakonie die sozialen Dienste im kirchlichen Rahmen anbietet, könnten türkische bzw. muslimische Gemeinden ebenfalls soziale und pflegerische Angebote in ihre bereits vorhandenen Organisationskonzepte verankern.
Viele Moscheen bieten bereits Räumlichkeiten und soziale Aktivitäten für unterschiedliche Altersgruppen an: Jugendclubs, Kulturreisen, Teestuben für Senioren, Bildungs- und Nachhilfezentren, Fußballvereine, Bibliotheken usw. sind mittlerweile feste Bestandteile vieler Moscheen. Es gilt also nur noch, die Kompetenzfelder weiter auszubauen und diese zu professionalisieren. In diesem Sinne können Angebote der Altenhilfe auch für Migrantinnen und Migranten empfänglich gemacht werden. Einerseits kann hier eine große Marktlücke in der Gesundheitsbranche geschlossen, andererseits können Beschäftigungsmöglichkeiten insbesondere für Frauen mit Migrationshintergrund geschaffen werden.
Moscheen sind weit mehr als nur Gebetsräume
Moscheen sind für islamische Gemeinden weit mehr als nur Gebetsräume. Dort begegnen sich junge und alte, arme und reiche, behinderte und nicht behinderte, sozial benachteiligte und behütete Menschen: Gebetsräume sind also auch Begegnungsräume und soziale Treffpunkte.
Im Bereich der Altenhilfe kann diese Begegnung der Generationen vielfältig genutzt werden. Es ist denkbar, dass die Tagesbetreuung der Senioren, die zum Beispiel nicht schwerst pflegebedürftig sind, durch Jugendliche erfolgen kann, die sich ohnehin in den Moscheen überwiegend ehrenamtlich engagieren. Diese Überlegung kann auch auf das „Freiwillige Soziale Jahr“ erweitert werden und auf diese Weise ließe sich das ehrenamtliche Engagement junger Menschen mit Migrationshintergrund in ein strukturelles Angebot einbetten. Gemeinsame Lesestunden, Spaziergänge oder vielleicht auch Einkäufe können die Familienangehörigen der Betroffenen enorm entlasten. Viel wichtiger ist natürlich die Verankerung der stationären Altenpflege in diesen Räumlichkeiten, die mehr Professionalität und vor allem den Einsatz verschiedener Fachkräfte erfordern würde.
In Deutschland gibt es circa 3.000 eingetragene Moscheen und Gebetsräume, die zum Teil aus großen Gebäudekomplexen bestehen. Angenommen, jede dieser Moscheen würde, ihren Kapazitäten entsprechend, ambulante oder stationäre Aufnahme für pflegebedürftige Menschen anbieten: So könnte eine nahezu flächendeckende Betreuung für muslimische Pflegebedürftige gewährleistet werden. Ein Pflegeangebot auf dieser Basis würde zudem die Ängste und Hemmschwellen, die mit der Inanspruchnahme von Pflegeangeboten verbunden sind, bei den Migrantinnen und Migranten sehr gering halten. Die Möglichkeit, in muslimischer Atmosphäre und Tradition zu leben, das heißt, nach den islamischen Vorschriften zu essen (Helal), die Möglichkeit zu haben, Gebete zu verrichten oder religiöse Feiertage zu feiern, entspringt einem elementaren Recht der Muslime in Deutschland.
An dieser Stelle ist die Aufmerksamkeit der islamischen Gemeinden und der zivilgesellschaftlichen Akteure gefragt, die gemeinsam Lösungskonzepte für diese Marktlücke in der Gesundheitsbranche entwickeln müssen.
Autoreninfo: Rukiye Bölük (Jg. 1989) ist Sozialwissenschaftlerin (B.A.). Neben ihrer Tätigkeit als Research-Analystin am futureorg Institut absolviert sie berufsbegleitend ihr Masterstudium zu „Management und Regulierung von Arbeit, Wirtschaft und Organistion“ an der Ruhr-Universität Bochum.