Flüchtlinge – die fünfte Einwanderungswelle

Ganz Europa trauert über die toten Flüchtlinge im Mittelmeer. Dabei muss das Kontinent seine Einwanderungspolitik dauerhaft überdenken. Denn “Flucht” ist ein Megatrend. (Foto:  Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Unknown / CC-BY-SA 3.0)

Megatrends, auch Basistrends genannt, sind epochale Entwicklungsflüsse, die eine Gesellschaft in ihren Grundfesten verändert. Der demografische Wandel ist ein solcher Megatrend. Auch die Digitalisierung gehört zu diesen epochalen Entwicklungsflüssen, die unser Konsum- und Kommunikationsverhalten aber auch die Art unserer Produktion und damit auch unser Erwerbsleben nachhaltig verändern wird.

Deutschland wird nicht bunter sondern multiethnischer und -religiöser

Die Multikulturalisierung ist ebenfalls ein Megatrend. Sie bleibt aber oft unausgesprochen oder durch Phrasen wie “Wir werden bunter.” verschleiert, da Einwanderung nicht nur in Deutschland zu Ressentiments führen kann. Pegida und die Ereignisse in Tröglitz sind Symptome, die auf solche  Ressentiments hinweisen.

Die Diskussion über das Einwanderungsgesetz, die der CDU-Generalsekretär Peter Tauber prominent angeführt hat, aber auch die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen, sind zwei Seiten desselben Symptoms: Europa ist auf Einwanderung angewiesen, es ist aber auch mit einem enormen Einwanderungsdruck konfrontiert.

Einwanderung stellt die deutsche Demokratie vor neuen Herausforderungen

Gesetzliche Regularien funktionieren in diesem Zusammenhang lediglich wie ein sozialpolitisches Ventil, damit der Megatrend kontrolliert stattfinden soll. Dieser Wunsch ist aber eine Illusion. Denn sie wird von der Frage geleitet, wie man die Tore nach Europa zumachen kann. Dabei sollte die Politik vielmehr die Frage beantworten, wie man die Tore nach Europa kontrolliert und schrittweise öffnen kann. Nur so kann der Druck, der durch den Megatrend “Flucht” immer größer und größer wird, kontrolliert abbauen und zurückdrängen.

Im Rahmen der endaX-Wahlstudie zur Bundestagswahl, bei der das Wahlverhalten von deutschen Staatsbürgern türkischer Herkunft empirisch untersucht wurde, habe ich in der Einführung der entsprechenden Vollstudie (Download hier) diskutiert, dass der Einfluss dieseS Megatrends ganz besonders auf die Demokratie in Deutschland zunehmen wird. Neben den drei Einwanderungswellen, die es in Deutschland gegeben hat, werden noch zwei Weitere folgen, so meine Prognose aus September 2013.

Auszug aus “Die Wahlbeteiligung von wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland – eine empirische Untersuchung”:

Deutschland ist eine multiethnische und multireligiöse Gesellschaft. Dies ist eine Aussage, die trotz ihrer empirischen Evidenz umstritten ist.

Seit dem Mikrozensus 2005 ist bekannt, dass jeder fünfte Einwohner in Deutschland einen so genannten Migrationshintergrund hat. Einen Migrationshintergrund besitzt nach der Definition des Bundesamts für Statistik eine Person, wenn entweder sie selbst oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde und nach 1949 nach Deutschland eingewandert ist. Damit hat die Staatsbürgerschaft keine entscheidende Bedeutung für die Erhebung des Migrationshintergrunds. Personen, die eine ausländische, deutsche oder eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, werden zu dieser Gruppe gezählt, sofern eben sie oder mindestens ein Elternteil nach Deutschland eingewandert ist.

Heute leben auf deutschem Boden 15.962.000 Menschen mit einem so genannten Migrationshintergrund. Sie machen damit 20% der Bevölkerung in Deutschland aus. Dies ist ein beträchtlich hoher Anteil an der Gesamtbevölkerung, wenn man bedenkt, dass in Deutschland 8,1 Millionen Familien leben, 40 Millionen Haushalte existieren, knapp 17 Millionen Senioren über 65 Jahre alt oder 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt tätig sind. Man kann daher folgern, dass diese Menschen mit Migrationshintergrund für Politik und Verwaltung eine höchst relevante Bevölkerungsgruppe bilden – zumal angenommen werden kann, dass ihre Zahl in Zukunft zunehmen wird.

Deutschland hat nach dem zweiten Weltkrieg insgesamt drei Einwanderungswellen erlebt:

Arbeitsmigration – Ende 1950 bis Anfang 1970: In den späten 1950er Jahren hat Deutschland gezielt so genannte Gastarbeiter im Rahmen bilateraler Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) rekrutiert. 1973 wurde im Zuge der Ölkrise und Rezession die Anwerbung von Gastarbeitern gestoppt. Während der größere Teil der Gastarbeiter entschieden hat, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, entschied sich der Rest hingegen ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu verlegen, so dass sie im Rahmen der Familienzusammenführung ihre Frauen und Kinder nach Deutschland holten.

Aussiedler und Spätaussiedler – 1950 bis 2005: Die zweite Einwanderungswelle leiteten die Nachfahren von Deutschen ein, die nach dem zweiten Weltkrieg in den früheren deutschen Gebieten verblieben waren, die dann zur Sowjetunion gehörten. Obgleich zwischen 1950 und 1987 1,4 Millionen Spätaussiedler nach Deutschland einwanderten, stieg ihre Zahl 1988 sprunghaft an. Der Grund war die gesellschaftliche, politische und ökonomische Öffnung der Sowjetunion (auch als Perestroika bekannt), die von Michail Gorbatschow eingeleitet wurde. Ab 1988 wanderten knapp 3,1 Millionen so genannte Spätaussiedler nach Deutschland ein, so dass über 4,5 Millionen Spätaussiedler in Deutschland gezählt werden konnten. Hiervon leben noch 3,2 Millionen Aussiedler und ihre Familien. (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2005; Tröster 2003; ITZ)

Asylbewerber und Flüchtlinge – Mitte 1980 bis Mitte 1990: Bis Mitte der 1980er Jahre war die Zahl der Asylbewerber sehr gering. Hiernach stieg ihre Zahl sprunghaft an, wobei der Höhepunkt Anfang der 1990er Jahre aufgrund des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien erreicht wurde. Hatten 1985 noch 73.830 Menschen einen Asylantrag gestellt, stieg diese Zahl 1992 auf 438.190 Antragsteller an. Auf diese Entwicklung hin reagierte die Bundespolitik und führte eine restriktive Regelung im Asylbewerbungsverfahren ein. Hierdurch sank die Zahl der Asylbewerber rapide ab.(vgl. Juchno 2007; Pro Asyl e.V. 2011) In Zukunft darf erwartet werden, dass eine vierte ggf. eine fünfte Einwanderungswelle stattfinden wird.

Fachkräftemangel – die 2. Arbeitsmigration: Der demografische Wandel verändert die deutsche Gesellschaft nachhaltig. Neben der Schrumpfung und Alterung führt er auch zu einem Fachkräftemangel: Deutschlands Bevölkerungsbestand wird nicht mehr ausreichen, um die Fach- und Führungspositionen zu besetzen, die in wenigen Jahren im großen Umfang vakant werden. Auch die so genannte “stille Reserve” im eigenen Bevölkerungsbestand, die aus Frauen, Migranten und Senioren besteht, wird nicht ausreichen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Fachkräfte und Hochqualifizierte im Ausland und ausländische Studierende an deutschen Hochschulen sind Reservoirs, um dem Effekt des Fachkräftemangels kurzfristig entgegenzutreten.

Flüchtlinge aus Afrika: Das tragische Schicksal von über 300 Bootsflüchtlingen, die bei dem Versuch von Nordafrika aus Lampedusa, eine zu Italien gehörende Insel im Mittelmeer, zu erreichen, ertrunken sind, ist ein trauriger Hinweis auf den wachsenden Einwanderungsdruck aus Afrika in Richtung Europa. Seit einigen Jahren wird die Europäische Union aufgrund der restriktiven Flüchtlingspolitik und den Grenzsicherunsgmaß- nahmen mithilfe der so genannten Agentur “Frontex” auch “Festung Europa” genannt. Vor dem Hintergrund der ertrunkenen Bootsflüchtlinge hat die EU eine Änderung der Flüchtlingspolitik signalisiert. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass, neben der Anwerbung von ausländischen Fachkräften und Hochqualifizierten, Flüchtlinge aus Afrika die fünfte Einwanderungswelle nach Europa und Deutschland bilden werden.

Sowohl die Gegenwart als auch die Prognosen für die Zukunft deuten darauf hin, dass sich Politik und Verwaltung auf eine Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund dauerhaft einstellen muss. Ferner kann davon ausgegangen werden, dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung zunehmen wird. In Anbetracht dessen, dass in einer Demokratie die Macht vom Volk ausgeht, ergeben sich hieraus drei zentrale demokratietheoretische wie -praktische Herausforderungen, die gelöst werden müssen. (aus: Die Wahlbeteiligung von wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland – eine empirische Untersuchung, Kapitel 1.1 Menschen mit Migrationshintergrund: Vom Gast zum Bürger – Gesellschaftspolitische Relevanz)