Im Rahmen einer weiteren „World-Café“-Gesprächsrunde ging es um die Gegenwart und Zukunft der Familie. Konsens dabei war, dass es künftig eine größere Vielfalt auch im Bereich der von Menschen gelebten Familienformen geben werde. (Foto: rtr)
von Rukiye Bölük
Das traditionelle bürgerliche Familienmodell mit dem männlichen Alleinverdiener und der Hausfrau am Herd entwickelte sich in Deutschland im 19. Jahrhundert und blieb bis heute das dominierende Vorbild für Lebensentwürfe und rechtliche Rahmenbedingungen. Heute zeigt sich jedoch, dass nicht alle individuellen Lebensstile diesem Ideal gerecht werden.
Diese Situation war auch Gegenstand der Gespräche unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Begegnungsraums „Familie, Identität und Nachbarschaften”, der erstmalig am 25. November im Rahmen des Projekts „TransVer-Offensive”stattgefunden hatte. Über 40 TeilnehmerInnen hatten bei dieser Begegnung von Menschen mit verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen Raum für neue Ideen und Perspektiven. Zufällig ausgewählte Gruppen haben sich fünf Mal zusammengesetzt, um mittels der sogenannten World-Café-Methode verschiedene Themen mit Blick auf die Zukunft zu erörtern: Familie, Identität, Nachbarschaft, Ehrenamt und Stadtentwicklung. Dabei haben sich interessante Begegnungen und Gespräche entwickelt.
Pluralisierung der Lebensformen
Auf die Frage, ob das traditionelle Familienmodell in der Zukunft auslaufen würde, haben die TeilnehmerInnen einvernehmlich mit „Nein“ geantwortet. Sie deuteten jedoch auf eine tendenzielle Abnahme dieses Modells hin, da sich Familien- und Lebensformen in der Zukunft vermehrt pluralisieren würden. Patchworkfamilien sowie gleichgeschlechtliche Partnerschaften waren dabei die am häufigsten genannten Formen der Lebensführung. Zudem gäbe es auch immer mehr binationale Familien, in denen auch das Rollenverständnis variiere.
Verwandte der Zukunft
Auch wurde die sogenannte Wahl- und Zweckverwandtschaft mehrfach als ein alternatives Familienmodell angesprochen, da demografiebedingt zukünftig die Zahl der alleinstehenden Personen zunehmen werde. Im Zuge dessen wird erwartet, dass sich Freundschaften und Bekanntschaften zu Wahlverwandtschaften entwickeln können. Die nette Oma von nebenan, die man seit der Kindheit kennt und mit der man sich gut versteht, kann für eine junge Studentin sowohl materiell als auch immateriell als Unterstützung dienen. Genauso kann es sich auch umgekehrt verhalten, weshalb auch eine Zusammenlegung der Haushalte für beide Personen sinnvoll werden könnte.
Doppelt hält gut!
Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht, waren die meisten GesprächsteilnehmerInnen eher unzufrieden und pessimistisch. Die beruflich bedingte Mobilität und Flexibilität determiniere die Familienplanung. Es wird vermutet, dass weiterhin viele Frauen ihren Kinderwunsch aufschieben würden. Dies habe auch damit zutun, dass die „Doppelverdiener”-Familie als Modell an Bedeutung zunehmen werde. Die einen betrachten diese sogar als Ideal im Einklang mit der Vorstellung der „emanzipierten Frau“, andere sehen dabei die finanzielle Notwendigkeit und Angewiesenheit auf diese Lebensführung im Vordergrund und das Modell auf diese Weise als „notwendiges Übel“.
Familienplanung vs. brüchige Berufsbiografien
Die Teilnehmer des Begegnungsraums stuften die Familienplanung bei Personen aus Einwandererfamilien zukünftig als problematisch ein. Das liege nicht nur an deren finanzieller Situation, sondern nicht zuletzt auch an der anhaltenden Benachteiligung von Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt. Demzufolge wirken ihre Berufsbiografien auch deshalb ungünstig auf die Familienplanung, weil sie häufiger vom Wohnort weit entfernte Arbeitsstellen in Anspruch nehmen müssen (persönliche Erfahrung eines Teilnehmers).
Auch die Vereinbarkeit von Familie und (häuslicher) Pflege stellt eine Herausforderung dar, da die Zahl der Singlehaushalte im weiter zunehmen wird. In Zukunft muss die Pflege also häufiger extern arrangiert werden. Wir brauchen demnach zukünftig verstärkt familienfreundliche Unternehmen, die nicht nur Rücksicht auf die Kinder der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nehmen, sondern auch auf deren pflegebedürftige Familienmitglieder.
Kinder als Prestige-Objekt
Die Gespräche mit fünf verschiedenen Gruppen förderten eine weitere sehr interessante Erkenntnis zutage: Die Kinder werden mehr und mehr zum „Prestige-Objekt”, sie erlangen also einen sozialen Wert. Die Teilnehmer sprachen auch von einer „Materialisierung des Nachwuchses”. Es gewinnt zudem immer mehr an Bedeutung, wie gut das Kind materiell ausgestattet ist: sei es die Kleidung oder der Besitz von bestimmten Spielzeugen, Smartphones usw. – der Wunsch, eine Familie zu planen, wird auch sehr stark davon abhängig gemacht, was man als Eltern den Kindern materiell zu bieten hat.
Mischehen beschleunigen die Kulturtransformation
In einer multikulturellen Gesellschaft ist es Gang und Gäbe, dass sich auch binationale Paare bilden. Die World-Café-TeilnehmerInnen waren fest davon überzeugt, dass binationale Ehen und Partnerschaften die besten Beförderer eines Kulturtransfers und Motoren des Abbaus der gegenseitigen Vorurteile sind.
Es wird in Zukunft nicht nur die Vielfalt der Familienmodelle zunehmen, sondern auch die Vielfalt innerhalb einer Familie: Sprachen- sowie Kulturenvielfalt. Die Enkelin einer deutschen Oma wird diese vielleicht mit einem „Bonjour” begrüßen und sich mit einem „Tschüss” sich von ihr verabschieden. Auf diese Sprachenvielfalt bzw. auf die doppelte Muttersprache müssen sich insbesondere vorschulische Einrichtungen vorbereiten, da Kinder in diesem Alter am besten die Muttersprache erlernen können.
Worüber kein Konsens erzielt werden konnte, war der Aspekt der Sicherheit vor der Familiengründung: Was genau ist Sicherheit und worauf muss man vor der Familiengründung abgesichert sein? Der richtige Zeitpunkt für eine Ehe bzw. einen Kinderwunsch wurde vielseitig diskutiert. Es stellte sich heraus, dass diese Entscheidung und insbesondere der Sicherheitsbegriff sehr stark von der individuellen Lebensbiografie sowie Lebensphilosophie abhängen.
*Diese Veranstaltungsreihe ist entstanden im Rahmen des Projekts „TRANSVER Offensive“ (www.transveroffensive.de). Das Projekt verfolgt das Ziel, Matchingprozesse zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und Organisationen zu verbessern, Vorurteile und Barrieren abzubauen und Ressourcen zu aktivieren, um Diskriminierung insbesondere auf dem Arbeitsmarkt abzuwehren und solchen entgegenzuwirken. Es wird gefördert im Rahmen des XENOS-Programms „Integration und Vielfalt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds.