Europa ist tot! Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man zurzeit auf den Kontinent blickt, der seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus die Welt dominiert.
Europa ist tot! Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man zurzeit auf den Kontinent blickt, der seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus die Welt dominiert. Die militärische Schlagkraft gepaart mit Bereitschaft zur Grausamkeit mancher europäischer Mächte, die Länder in Afrika und Asien annektierten, manche Völker versklavten und enteigneten, deren Vermögen in die europäischen Hauptstädte verschifften, begründete nicht nur die Überlegenheit dieser Weltregion, sondern auch ihren Reichtum. Wenn es heute ein Hass auf Europa oder auf den Westen gibt, dann wurden damals die Fundamente gelegt. Vielleicht ist es doch gut, dass Europa tot ist!
Auf der anderen Seite aber steht Europa auch für Aufklärung, für Wissenschaft und Technologie, für die Freiheit von Menschen, für Volkssouveränität, Bürgertum und Demokratie. In den letzten 50 Jahren wurde nicht nur die Bildungs- und Lebensqualität der Menschen in Europa verbessert. Indem Europa zum Vorbild für weite Teile der Welt geworden ist, hat es zur Besserung der Situation in anderen Weltregionen – mal mehr, mal weniger – beigetragen.
Ist Europa gut oder böse?
Ist Europa nun gut oder böse!? Europa ist beides, ist meine Antwort. Denn diejenigen, die sich heute gegen Europa und den Westen stellen, machen denselben Fehler wie Teile der europäischen Gesellschaften im Umgang mit Muslimen: Sie differenzieren nicht. Sie gehen nicht von der Gleichzeitigkeit von Gut und Böse aus. Ja, europäische Mächte haben in Afrika und Asien Länder und Völker unterdrückt. Und ja, zur gleichen Zeit entstand auch unter dem Eindruck dieser Grausamkeiten eine Bewegung, die sich zunächst für die Bürgerrechte und später auch die Menschenrechte einforderte und durchsetzte. Diese Dialektik von Gut und Böse führte zu großen zivilisatorischen Errungenschaften, für die Europa und der Westen wie ein Leuchtturm in der Welt stehen. Europa und der Westen haben in der jüngeren Vergangenheit viele Fehler gemacht und sie werden diese und ähnliche Fehler in der Zukunft wiederholen. Aber im Gegensatz zu anderen Weltregionen haben sie einen Vorteil: das politische und gesellschaftliche System ist in der Lage, aus diesen Fehlern zu lernen.
Die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systeme Europas und des Westens erlauben in Gestalt der Demokratie den „Widerspruch“ und dass dieser Widerspruch durch politische Überzeugungsarbeit eine Mehrheitsmeinung werden kann, aus der ein Lerneffekt entstehen kann.
Die Türkei als Gegenbeispiel
Die Republik Türkei hingegen ist ein beeindruckendes Gegenbeispiel. Sie läuft gerade Gefahr, dank des omnipräsenten Engagements des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, eine Gesellschaft zu werden, die keinen Widerspruch mehr zulässt. Statt dem Willen einer Ideologie ist nun der Wille eines einzelnen Mannes Maßstab für staatliches Handeln in Erdoğans neuer Türkei geworden. Ein unerträglicher Zustand, der weder für die alte türkische Republik noch für das Osmanische Reich typisch war, auch wenn der Staatspräsident sich mit Symbolen dieser alten Zeit schmückt. Soziologisch betrachtet, ist der soziale, politische und ökonomische Abstieg der Erdoğan-Türkei aufgrund dieses Systemfehlers vorprogrammiert.
Europa heute ist nicht nur eine Weltregion, die durch Krisen erschüttert wird. Die Finanzkrise, die hohe Staatsverschuldung und Jugendarbeitslosigkeit, die ehrgeizige Aufholjagd von Schwellenländern im Nahen Osten, Asien oder Südamerika. Der Konflikt in Ukraine und mit Russland belastet Europa. Auch das Aufkommen rechtsextremer und islamfeindlicher Bewegungen bedroht die Zukunftsfestigkeit dieser Region. Nicht zuletzt darf nicht vergessen werden, dass die gesamte Region vor einer gewaltigen demografischen Herausforderung steht. Machten in den 1950er Jahren über 20% der Weltbevölkerung Europäer aus, so wird dieser Anteil in der nahen Zukunft sieben Prozent ausmachen. Demografisch rutscht Europa in die Bedeutungslosigkeit. Und im Lichte dieser Entwicklung kann ein weiterer Lerneffekt Europas beobachtet werden.
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel führte in ihrem Vortrag auf dem zweiten Internationalem Deutschlandforum an: „Wir Europäer müssen lernen, dass wir nicht mehr alleine das Zentrum der Welt sind. Wir sind immer noch sehr getrieben von dem Denken des 19., 20. Jahrhunderts, als Europa eine immer dominantere Rolle gespielt hat.“ Nicht Europa ist tot, sondern der Eurozentrismus. Erst kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte Alt-Kanzler Helmut Schmidt, dass die Europäer ihre Bedeutung durch die Taten der letzten 50 Jahre überschätzen würden. „Aber das ist überhaupt keine Garantie dafür, dass sie [die Europäer] in den nächsten 40 Jahren überhaupt noch eine große Rolle spielen wird“, so Schmidt weiter.
Die europäische Soziologie versucht diesen Wandel in einer Theorie zu fassen, was kein einfaches Unterfangen ist! Dank der Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte ist die europäische Gesellschaft hochdynamisch, hochdifferenziert und hochkomplex geworden. Lebensstile, Werte, Formen der Erwerbstätigkeit und Motivationen dazu, die Rolle des Ehrenamts, die Art der Produktion und damit das Wirtschaftssystem sowie die Medien und ganz besonders die Einwanderer verändern Europa und den Westen. Der ganze Kontinent leuchtet hell auf, weil es sich auf allen, wirklich allen Ebenen verändert.
Die reflexive Modernisierung und die Muslime
Der deutsche Soziologe Ulrich Beck, der leider viel zu früh gestorben ist, und sein englischer Kollege Anthony Giddens bieten allerdings eine Theorie an, die sie „reflexive Modernisierung“ nennen. In der reflexiven Modernisierung verliert die Industrie, die fundamentaler Standbein Europas Vormacht bildet, an Bedeutung. Dadurch wird die Zukunft der Gesellschaft nicht mehr vorhersehbar. Eine Industrieanlage, die man baut, baut man nämlich für 50 oder mehr Jahre. Stattdessen treten soziale Bewegungen auf den Plan. Sie verändern die Art und Weise, wie wir Familien gründen und organisieren, einen Beruf erlernen, konsumieren oder produzieren. Diese sozialen Bewegungen lösen Krisen und Unsicherheiten aus, aber sie eröffnen Wege für Erneuerungen und Innovationen ohne die Stabilität der Gesellschaft zu gefährden.
Früher, in den 1970er Jahren, prognostizierten Soziologen, dass aufgrund der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, die Gesellschaft „atomisiert“ wird, also in seine kleinsten sozialen Elementen, nämlich das Individuum, zerlegt wird. Sie nahmen an, dass statt Familien lauter Egoisten die Gesellschaft dominieren werden. Heute aber sehen wir, dass die Familie als Keimzelle einer Gesellschaft nicht aufgelöst wurde, obwohl die Individualisierung eingetreten ist. Die Art, wie Familien gegründet und organisiert werden, hat sich verändert. Neben den Kleinfamilien, die nach wie vor den Normalfall bildet, treten nun auch Alleinerziehende oder nicht-eheliche Lebensgemeinschaften auf. Das ist nur ein Beispiel.
Ein anderes Beispiel sind die Muslime in Deutschland. Auch sie können aus Sicht der Theorie zur reflexiven Modernisierung als eine soziale Bewegung aufgefasst werden. Sie verändern die europäischen Gesellschaften. Neben Kirchen entstehen Moscheen. Neben Schützen- und Umweltschutzvereinen entstehen religiöse Vereine, die sich im Bereich der Wohlfahrt engagieren. Neben Deutsch- und Ethikunterricht gibt es islamischen Religionsunterricht. Neben dem deutschen Gymnasium gibt es ein „türkisches“ Privatgymnasium.
Wenn manche Muslime heute auf Europa und den bösen Westen schimpfen, dann laufen sie Gefahr, eine wichtige Chance zu verpassen: nämlich Teil eines sich verändernden Europas zu sein. Und wenn manche Europäer die Islamisierung des Abendlandes befürchten, dann laufen sie Gefahr, den Anschluss an die Welt zu verlieren.
Es existiert keine Feindschaft zwischen Muslimen und den Westen, wie es der türkische Staatspräsident oder die Organisatoren von Pegida propagieren. Hier existiert eine gegenseitige wohltuende Abhängigkeit zwischen Muslimen und Europa, die man auch als Zukunftschance begreifen könnte.