Brexit-Chaos: Das Ende von Volksabstimmungen?

Großbritannien hat eine historische Entscheidung getroffen: In absehbarer Zeit soll das Insel-Imperium die Europäische Union verlassen. Seitdem kämpft das Land mit dem Brexit-Hangover: Eine kollektive Schockstarre mit täglich neuen Hiobsbotschaften. Dabei fand das Instrument der Volksabstimmung Anklang – bisher.

Die historische Tatsache hat alle überrumpelt. So richtig hat niemand mit dem Brexit gerechnet. Für persönliche Eitelkeiten und interner politischer Grabenkriege innerhalb der Konservativen Partei, wurde nicht nur die Zukunft Europas, sondern auch die des Vereinigten Königreichs aufs Spiel gesetzt.

Die Pointe dieses politischen Kammerspiels, dürfte der Rücktritt des UKIP-Chefs Nigel Farage sein, dessen populistische Forderungen erfüllt wurden. Niemand fühlt sich mehr dafür verantwortlich den Scherbenhaufen aufzuwischen.

So richtig will das keiner

Damit der Austritt offiziell wird, muss das britische Parlament über die Aktivierung des Art. 50 des Europäischen Vertrages abstimmen. Aber so richtig will das nun keiner mehr, angesichts der weitreichenden Folgen. Ob der Antrag so durchgeht, ist mehr als fraglich, angesichts einer Mehrheit von 13 Sitzen der ohnehin gespaltenen Regierung.

Anders als in der Schweiz, sind Referenden in Großbritannienrein konsultativ und somit nicht bindend. Als offizielle Volksbefragung „von oben“ sind sie eine Sonderform, da sie nur ein weiteres Instrument der Entscheidungsfindung sind, die durch die Regierung, einer Bürgerinitiative, das Parlament oder Parteien initiiert werden können.

In Deutschland herrscht eine historische Skepsis gegenüber direktdemokratischen Einflüssen. Befürworter von Referenden weisen darauf hin, dass sich der sozio-historische Horizont der Gesellschaft verändert habe, was eine Neubewertung des Sachverhaltes notwendig mache, da die demokratische Kultur mittlerweile fest in der Bevölkerung verankert sei.

Rechtslage in BRD umstritten

In Zeiten von Politikverdrossenheit und Wählerrückgang, wird jedoch über neue Formen der politischen Partizipation diskutiert. Die bayrische Staatsregierung strebt schon länger die Einführung eines konsultativen Referendums an, um die Meinung der Bürger bei bestimmten Sachverhalten einzuholen. Die Rechtslage in der Bundesrepublik bleibt jedoch umstritten.

Formen direkter Demokratie im klassischen Sinn beschränken sich bisher auf Volksbegehren und Volksentscheide, die zwischenzeitlich in fast allen Bundesländern in irgendeiner Form Anklang fanden.

Allerdings ist die Möglichkeit über ein fakultatives bindendes Referendum in diversen Landesverfassungen festgehalten, wie etwa in Bayern, Hessen, Bremen, aber auch Nordrhein-Westfalen. Volksbefragungen jedoch sind laut Art.29 und Art.118 GG nur dann zulässig, wenn es zu einer Neugliederung der Bundesländer kommen soll.

Versteht man Demokratie als die Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung durch Gemeinschaftsentscheidungen, dann muss man solche plebiszitären Mittel sicher gutheißen. Befürworter verweisen darauf, dass direktdemokratische Mittel, die Defizite des repräsentativen Systems nicht nur reduzieren, sondern auch die Zivilgesellschaft zu mehr Partizipation motivieren könnten.

Viele Vorteile, aber…

Der Volkswille könnte sich dadurch jederzeit bequem erfassen lassen. Durch die Eingebundenheit in den Entscheidungsprozess, hätte ein vom Volk mitgetragener Beschluss viel größere und langfristigere Legitimation. Gewählte Politiker könnten ihre Verantwortung für das Lösen großer gesellschaftlicher Probleme an die Bevölkerung abgeben und wären dadurch nicht mehr an Zwänge eines personenbezogenen Wahlkampfes gebunden, so dass sie sich voll und ganz mit politischen Sachverhalten beschäftigen könnten.

Kleinere Parteien und Bürgerinitiativen könnten mit ihren Anliegen viel schneller ihr Ziel erreichen und müssten weniger bürokratische Hürden nehmen.

Die Befragung der Bürger käme einer noblen Handlung durch den Staat gleich. Staatsrechtler, wie Christian Pestalozza, gehen dabei jedoch von einer natürlichen Mündigkeit des Bürgers aus. Die Schwarmintelligenz der Bürger werde schon die richtige Entscheidung treffen.

Der Brexit hat jedoch gezeigt, dass der gemeine Bürger nicht mündig ist, so weitreichende Entscheidungen zu treffen, wenn er durch Kampagnen manipuliert werden kann. Das Chaos nach dem Referendum zeigt, dass die Inhalte und möglichen Konsequenzen des Austritts offenbar nicht bei allen ankamen.

Auch falsche Meinungsbildung über klassische Medien

Stattdessen ging es darum, wer seine Wählergruppen am besten mobilisieren kann. So ist die Behauptung, dass die älteren Briten über die Köpfe der jüngeren hinwegentschieden hätten, nur bedingt richtig. Zwar haben 72% der 18 bis 24-jährigen gegen den Brexit gestimmt, allerdings lag die Wahlbeteiligung in dieser Altersgruppe nur bei 36%, wohingegen sie bei den über 55-jährigen Briten bei über 80% lag.

Wahlkämpfe werden auch bei einem Referendum nicht objektiver geführt. Politische Fakten geraten in den Hintergrund und weichen der populistischen Akklamation. Wenn der Volkszorn groß ist, kann der Volkswille zu ungewünschten Ergebnissen führen, so dass sich eine Volksabstimmung auch als Schuss nach hinten erweisen kann.

Insbesondere in Zeiten von Pegida, AfD und co. zeigt sich, dass die demokratische Kultur noch nicht in den Köpfen aller angekommen ist. Es gibt eine Reihe empirischer Untersuchung, die zeigen, dass sich gerade rechtspopulistische Initiativen bei Volksabstimmungen durchsetzen.

Verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis

Fraglich ist auch, ob für eine Volksbefragung das Schaffen einfacher Gesetze ausreicht, oder ob eine Verfassungsänderung notwendig ist. Man könnte die Abstimmungskompetenz bereits aus Art.20 II GG herleiten („Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“).

Eine Änderung dieses Artikels wäre aufgrund der Ewigkeitsklausel nicht möglich. Auf den ersten Blick bliebe die Verantwortung der Parlamente und Regierungen bei der Herbeiführung eines Referendums unberührt.

Allerdings sind sowohl das Wahlrecht, als auch die Exekutive auf Bundes- und Landesebene eindeutig als repräsentativ deklariert. Genau hier liegt der wunde Punkt eines konsultativen Referendums. Studien haben ergeben, dass die Ergebnisse konsultativer Referenden fast immer bindend sind, weil sich eine Regierung bzw. Parlamentsabgeordnete nur selten über den Willen des Volkes hinwegsetzen.

Kein Politiker würde es wagen sich bewusst gegen den Volkswillen zu entscheiden. Abgeordnete sind nach Art. 38 I 2 GG dazu verpflichtet sich nicht an Aufträge und Weisungen zu halten. Demnach sollen sie unabhängig und im Sinne des Gemeinwohls entscheiden. Wenn ein Abgeordneter nun stets den Mehrheitswillen der Bevölkerung vor Augen hat, wird sein Freiraum diesbezüglich eingeschränkt. Dadurch kommt es zu einem klaren Einschnitt verfassungsrechtlicher Exekutivkompetenzen.

Hochkomplexe Sachverhalte werden simplifiziert

Gleichzeitig bedeutet dies, dass der Politiker in der Verantwortung für sein Handeln steht und er bei der nächsten Wahl auch entsprechend vom Volk sanktioniert werden kann. Beim konsultativen Referendum könnte ein Blame-Shifting stattfinden („Ihr habt es doch so gewollt!“), wenn sich die Konsequenzen einer Abstimmungsentscheidung als unpopulär erweisen sollten.

Man kann vom Bürger nicht verlangen, dass er eine unwiderlegliche Weisheit innehat. Insbesondere hochkomplexe Themenfelder benötigen angemessener Informationsmöglichkeiten und gleichzeitig das Interesse der Bevölkerung sich damit zu befassen, wohingegen ein Abgeordneter genau dazu verpflichtet ist.

Häufig geht es nicht um Jedermann-Fragen, die sich nach kurzem Informationsprozess so einfach mit ja oder nein beantworten lassen können. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein konsultatives Referendum die verfassungsrechtlichen Hürden bewältigen würde, müsste die Politik also zunächst an diesen Schrauben ansetzen.