70 Jahre Kriegsende: Wie die Bundesrepublik ihren Umgang mit dem Krieg erneuern muss (Teil I)

Am vergangenen Wochenende jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Ist es Zufall, dass wir gerade jetzt einen Anstieg und neuen Formen von rechtem Populismus und Delikten mit rechtsradikalem Hintergrund erleben? Mit dem Ableben der letzten Zeitzeugengeneration des Krieges und des Holocausts sind die Bildungsministerien gefordert neue Ideen gegen das Vergessen und zur Prävention von Radikalismus zu entwickeln. 

Dortmund-Dorstfeld, 28. März 2015: Mit hassverzerrten Fratzen, schwarz-weiß-roten Flaggen und ausländerfeindlichen Parolen ziehen sie durch „ihren“ Kiez in „ihrer“ Stadt. Beendet wurde der Marsch mit einem Konzert der Neonazi-Band Lunikoff-Verschwörung vor dem Westfalenstadion – Heimstätte des lokalen Fußballvereins Borussia Dortmund. Der Verein hatte sich in den Jahren zuvor intensiv gegen rechtsradikale Einflüsse auf den Tribünen eingesetzt. So initiierte man regelmäßige Gedenkfahrten für junge Fans ins ehemalige Konzentrationslager Lubin. Fanvertreter wurden im vergangenen Jahr für ihren Einsatz gegen Rechts mit dem Julius Hirsch-Preis des Deutschen Fußballbundes ausgezeichnet und Anfang des Jahres verteilte die Fanabteilung mehrere tausend Bierdeckel in den Kneipen der Ruhrpottmetropole mit der Aufschrift „Kein Bier für Nazis!“. Auf den Deckeln befindet sich außerdem ein QR-Code mit dessen Hilfe man per Smartphone auf eine Seite gelangt mit Argumenten gegen die üblichen rechtspopulistischen Phrasen („Die nehmen uns doch nur die Arbeitsplätze weg!“). Angesichts all dieser Mühen, dürfte es für den Verein und das Wirtschaftsunternehmen Borussia Dortmund ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, als in den abendlichen Nachrichten die Bilder von Neonazis vor dem Stadion durch die Republik geisterten.

Da schlägt man sich die Hände über den Kopf zusammen

Dass ausgerechnet ein Gelsenkirchener Gericht die Demonstration in letzter Instanz erlaubt hatte, wäre nur halb so tragisch-komisch, wenn man nicht den genauen Anlass des Marsches kennen würde. Auf den Tag genau vor zehn Jahren wurde in Dortmund der Punk Thomas „Schmuddel“ Schulz auf offener Straße von Neonazis erstochen. Nun ist Dortmund-Dorstfeld nicht die Welthauptstadt Germania und beim Gedanken daran, welche „Herrenmenschen“ da für seine Zwecke demonstrieren, würde sich „ihr Führer“ wohl ein zweites Mal die Kugel geben, allerdings ist der Gedenkmarsch Sinnbild für die unglückliche Art und Weise, wie öffentliche Verwaltung und Rechtsradikalismus in der Stadt und in anderen Teilen Deutschlands scheinbar einhergehen.

Wer einmal das Buch „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“ von Stefan Aust und Dirk Laabs über die rechtsradikale Terrorzelle liest, schlägt sich die Hände über den Kopf zusammen vor Entsetzen über die vermeintliche Unfähigkeit und Schlampigkeit der Behörden die Terroristen zu fassen. Was danach folgte, gleicht einem Thriller a la Frederik Forsyth: Agenten des Verfassungsschutzes, welche bei Tatorten anwesend waren und nichts mitbekommen haben wollen, wichtige Dokumente und Beweise, die zerstört wurden, belastende Zeugen wurden bei den Ermittlungen entweder ignoriert oder sind auf mysteriöse Art und Weise ums Leben gekommen. Zuletzt starb Melisa M. in Folge einer Lungenembolie nach einem Motorradsturz. Sie wollte im Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg aussagen. Ihr Freund Florian H. verbrannte vor einem Jahr in seinem Auto. Er galt als wichtiger Zeuge in dem Prozess, der den möglichen Täter am Mord der Polizistin Michelle Kiesewetter in Heilbronn hätte nennen können. Man könnte ernsthaft meinen, dass da jemand seine Spuren verwischen möchte. Unter diesen Gesichtspunkten bekommt auch das Schweigen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe eine vollkommen neue Bedeutung. In einem Land, wo so genannte Reichsbürger gegen eine angeblich vom so genannten System gesteuerte „Lügenpresse“ demonstrieren und auf jede noch so hohle Verschwörungstheorie à la Chemtrails glauben, werden tatsächliche Vertuschungen, die wirklich für Brisanz sorgen könnten, mehr oder minder nur zur Kenntnis genommen oder ignoriert.

Rechte loten ihre Grenzen aus.

Es ist paradox, dass das starke Aufkeimen von Rechtspopulismus in der Bundesrepublik zeitgleich zum brisantesten Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte stattfindet, wo es ausgerechnet um Morde mit Neonazihintergrund geht. Geschützt wurde der NSU vermutlich nicht nur vom Verfassungsschutz, sondern vermutlich auch von Neonazis selber. Bestrebungen solcherlei Kameradschaften und Gruppierungen zu verbieten haben jedoch perverse Mutationen angenommen. Indem der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger im Herbst 2012 die Gruppierung Nationaler Wiederstand verbot, haben sich die Köpfe dieser Organisation zur Partei „Die Rechte“ zusammengeschlossen, die seitjeher zumindest auf lokaler Ebene zur Parteienlandschaft gehören. Was die Partei von anderen rechten Parteien unterscheidet? Ihre Führungsmitglieder sind nicht mehr unbedingt irgendwelche Althooligans oder bildungsferne Individuen, sondern Studenten und somit angehende Akademiker. Auch vom Auftreten unterscheiden sie sich von den klassischen Glatzen mit Bomberjacke und Springerstiefeln. Der moderne Faschist tritt jetzt äußerst zivil und adrett auf, so dass sich eine neue Form des Neonazis etabliert hat: Der so genannte Nipster (Nazihipster). Mit ihren langen Haaren, Tattoos, Bärten, Windbreakern oder Kaputzenjacken sehen sie verwegen aus und wirken mit ihrer Entschlossenheit besonders anziehend auf Jugendliche. Äußerlich kaum von einem Klienten eines hippen Szenecafés am Berliner Prenzlauer Berg zu unterscheiden, bleibt das Gedankengut jedoch gleich.

„Mehmet hat’s erwischt!“ (Mehmet Kurtulus war das Opfer eines Anschlages des NSU in Dortmund) oder „Anne Frank war essgestört!“ sind beliebte Gesänge, wenn sie vor den Unterkünften von Asylbewerbern oder den Wohnungen von Journalisten und des Oberbürgermeisters in Dortmund stehen. Die Polizei steht in solchen Situationen häufig teilnahmslos daneben. Nach den Oberbürgermeisterwahlen und dem Einzug der Partei „Die Rechte“ in den Stadtrat, wollte eine Gruppe von Rechtsradikalen das Rathaus gewaltsam stürmen, wo sich Lokalpolitiker zur traditionellen Wahlfeier versammelt hatten. Nachdem sich die Mehrheit der Anwesenden, einschließlich einiger Landtagsabgeordneter, schützend vor den Eingang stellte, hieß es im anschließenden Polizeibericht, dass „angetrunkene Lokalpolitiker“ die Arbeit der Polizei verhindert hätten. Es ist offensichtlich, dass die neuen Rechten absichtlich provozieren. Sie testen die Grenzen inwieweit ihr Verhalten offenbar toleriert werden kann und die Grenzen sind offenbar sehr locker. Kannte man solche Bilder bisher eher aus trostlosen Gegenden in Ostdeutschland, passieren diese Vorfälle nun immer häufiger auch im Rest der Republik. Die Zahl der rechtsradikal motivierten Straftaten ist in den letzten Jahren bundesweit angestiegen. Laut Bundeskriminalamt hat sich die Zahl der Kriminalfälle auf Asylunterkünfte im vergangenen Jahr im Vergleich zu den Vorjarhen verfünffacht. Zuletzt machte das Dorf Tröglitz in Sachsen-Anhalt Schlagzeilen, wo erst der Bürgermeister der Gemeinde nach Morddrohungen zurücktrat und anschließend ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt wurde. Straftaten mit antisemitischen bzw. fremdenfeindlichen Hintergrund sind um 21 bzw. 25% angestiegen.

Kleingeistige Bürger, die von der Bildung abgehängt werden

Die Strauss’sche Maxime, dass in der Bundesrepublik keine politische Kraft rechts der CDU geben dürfe, scheint zu verpuffen. Lange Zeit konnte man stolz darauf sein, dass es in Deutschland keine große nationalistische Partei a la Le Pen in Frankreich oder Allianza Nazionale in Italien gegeben hat. Die Alternative für Deutschland ist gerade dabei sich als politisch organisierte Form der Systemkritiker, -skeptiker und des gesamten „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“-tums zu etablieren. Auch wenn sie gemäßigter auftritt als andere Konsorten, machen Vertreter der Partei keinen Hehl daraus, dass man ungeniert auch am rechten Rand fischt um Wählerstimmen zu ergattern. Will man diese Wähler dauerhaft halten, so muss man auch die Parteilinie langfristig an den Bedürfnissen dieser Wähler ausrichten. So scheut man auch nicht davor öffentlich mit Vertretern der PEGIDA-Bewegung zu kuscheln. Aus der Protestbewegung gegen Einwanderung, Vielfältigkeit und so ziemlich allem, was kleingeistige Bürger, die von der Bildung abgehängt wurden nicht verstehen, sind fragmentierte Gruppen geworden, deren Oberhäupter ebenfalls in die Politik drängen. Ob dieses Engagement von Erfolg gekrönt sein wird, wird die Zeit zeigen. Zweifellos schüren sie mit ihrer Rhetorik und ihrer Präsenz Hass und Fremdenfeindlichkeit. Auch wenn sie nach außen gemäßigt auftreten, zeigen Kommentare von Gefolgsleuten in sozialen Medien, wer durch diese Kampagnen angesprochen werden soll. Wenn es nach ihnen ginge, dann sollten ethnische Säuberungen und Deportationen eher heute als morgen wieder in Deutschland erfolgen. Dass man solche Internet-Hetze durchaus ernst nehmen sollte, hat der Fall der Old School Society gezeigt.

Lesen Sie morgen den zweiten Teil!