Wird Angela Merkel zurücktreten? Das kann die Zukunftsforschung nicht vorhersagen. Sie kann aber einschätzen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Wahrscheinlichkeiten ein solcher Rücktritt eintreten kann. (Foto: Armin Linnartz)
Vor Vorträgen, Veranstaltungen oder Meetings rufen mir mit Humor beseelte Gesprächspartner “Haben Sie Ihre Glaskugel auch nicht vergessen?!” zu. Ich verstehe natürlich, worauf diese Person abzielen möchte: Die Zukunft vorhersagen? – Das ist doch Phantasterei! Ist es auch.
Morgen: unendliche Menge an Ereignisse
Die Aufgabe der Trend- und Zukunftsforschung ist es schließlich nicht, vorherzusagen, welche einzelnen Ereignisse in der Zukunft tatsächlich eintreten werden. Das ist in sehr seltenen Fällen möglich. Vielmehr möchte diese Disziplin Entwicklungsrichtungen und Realisierungsräume aufzeigen. Ein einfaches Beispiel.
Was wird morgen passieren? Grundsätzlich lautet die Antwort auf diese Frage “Alles denkbar.”. Morgen könnte ein Komet auf die Erde fallen, die Bundeskanzlerin zurücktreten, der Himmel sich rot färben oder der neue Messias auf die Welt kommen. Kurz: Morgen kann eine unendliche Menge an Ereignissen eintreten.
Aber wie wahrscheinlich ist, dass morgen ein Komet auf die Erde fällt. Sehr gering bis unwahrscheinlich. Gut – die Bundeskanzlerin steht zurzeit wegen der Flüchtlingspolitik stark unter Druck. Politische Gegner wittern jetzt ihre Chance. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zurücktritt, ist aber gering. Je nach Standort auf der Welt, der Jahreszeit und dem Einfallwinkel der Sonnenstrahlen kann an bestimmten Orten der Himmel sich rot färben.
Maßgeblich ist die Eintrittswahrscheinlichkeit
Für fast die Gesamtheit aller Menschen ist es unwahrscheinlich, dass morgen der Messias auf die Welt kommt. Zu manchen spirituellen Gruppen, oft Sekten, gehört aber der Glaube zur Existenzberechtigung, dass ihr Messias auf die Welt kommen wird, um sie zu erlösen – oder was auch immer anzustellen.
Maßgeblich ist nicht, den Eintritt von Ereignissen vorherzusagen, sondern die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, dass ein Ereignis oder ähnliche Ereignisse eintreten könnten. Dabei sind auch die Bedingungen wichtig, in denen die Ereignisse sich formen. Kein Ereignis tritt plötzlich und unabsehbar ein. Vielmehr hat jedes Ereignis eine Entwicklungsgeschichte, die beobachtet und in vielen Fällen quantifiziert werden kann.
Genau diese Bedingungen sind der Grund, dass researchgate.com, ein soziales Netzwerk für Wissenschaftler, sich nicht in Deutschland sondern erst in den USA etabliert hat. Die Idee und die Macher dieses Portals sind Deutsche. Während sie hier verzweifelt nach Geldgebern gesucht haben, haben sie in den USA relativ zügig in Bill Gates einen wichtigen Sponsor gefunden. Aber genau diese Bedingungen sind zugleich der Grund, warum Deutschland die USA seit den 1960er Jahren als wichtigste Autonation eingeholt hat.
Interessen, Macht, Geopolitik, Ideologie beeinflussen Eintrittswahrscheinlichkeiten
Im ersten Fall bieten die USA eine positive und offene Gründerkultur an, die mit Risikokapital gefördert wird. Ibrahim Evsan, einer der deutschen Internetgurus, machte vor einigen Jahren darauf aufmerksam, dass die deutschen Risikokapitalgesellschaften 200 Millionen Euro in IT-Startups investiert haben. Im selben Jahr habe alleine Facebook 200 Millionen in den Aufbau ihrer Serverlandschaften investiert.
Im zweiten Fall existiert in Deutschland eine offene Industriepolitik, die vornehmlich durch den Staat gefördert wird. Die Automobilindustrie war vom Beginn der deutschen Nachkriegsgeschichte an eine Schlüsselindustrie. Durch sie konnten zügig Arbeitsplätze geschaffen und durch Exporte Wohlstand vermehrt werden.
Doch es existieren weitere Faktoren, die eine Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmen: Interessenlagen, Programmatik und Ressourcenausstattung von Interessengruppen, Machtbeziehungen, physikalische Gegebenheiten, Weltanschauungen und Überzeugungen von Gruppen, Sozialstruktur, geopolitische Rahmenbedingungen, Innovationskultur u.v.m.
PEGIDA war nicht vorhersehbar aber die Kritik an der Einwanderungspolitik
Gerade die Soziologie bietet eine Reihe von Theorien und Instrumente an, die erlauben, diese Faktoren in ein sinnvolles Prognosemodell einzureihen und mit Wahrscheinlichkeiten auszustatten, um künftige Ereignisse einzuschätzen.
Ein Beispiel: Aufgrund der demografischen Entwicklung, der humanbasierten Industrie, deren Abhängigkeit von Wissen immer stärker wird, ist Deutschland auf Einwanderung insbesondere von klugen Köpfen massiv angewiesen. Das Problem aber ist, dass dieses Land über Jahrzehnte eine restriktive Einwanderungspolitik betrieben hat. Hieraus ergibt sich eine krasse Konfliktsituation. Man ist zwar auf Einwanderung angewiesen, man will aber keine Einwanderung.
Daher war es zwar absehbar, dass dieses Dilemma zu einem gesellschaftspolitischen Konflikt führen wird, in dem sich Menschen und Gruppen organisieren werden. Dass diese Gruppen aber PEGIDA heißen und Montagsdemos abhalten werden, war hingegen nicht prognostizierbar. Der gesellschaftspolitische Konflikt ist die Entwicklungsrichtung bzw. der Realisierungsraum, in dem PEGIDA eine Ausprägung darstellt.
Die soziologische Trend- und Zukunftsforschung kann zwar nicht die Zukunft vorhersagen. Sie hilft aber, künftige Entwicklungen besser einzuschätzen, so dass man sich besser darauf vorbereiten kann.