Wenn die Wissenschaft Veränderungsprozesse untersucht, dann beobachtet, misst und empfiehlt sie. Die Trennung vom Beobachter und System funktioniert in einem komplexen Umfeld nicht mehr. Reallabore stellen eine Alternative dar. (Foto: Linda / flickr)
Berlin ist ein schönes Beispiel: Ehemals eine Stadt, die durch eine Mauer und zwei Gesellschaftssystemen getrennt war, wurde sie nach der Wiedervereinigung eine Mega-Baustelle. Über die weiteren Jahre wurde sie wieder deutsche Hauptstadt, wodurch Ministerien und Bürokraten sowie Verbände, Gewerkschaften und Interessenverbände nachzogen.
Heute gilt Berlin als eine der bedeutendsten Start Up-Standorte in Europa. Sie zieht aus aller Welt Kreative, Gründer und Kapitalgeber, die sich mit ihren Lebensstilen niederlassen und das Stadtbild prägen. Doch Berlin ist nicht die einzige Stadt, die sich zügig und grundlegend verändert.
“Beobachter/System”-Trennung funktioniert nicht mehr
Ob soziale Gruppen, die in die Städte einwandern, ein neues Mobilitätskonzept, das die Innenstädte entlasten soll, oder die Ansiedlung von Hochtechnologie-Unternehmen, die neue Arbeitsplätze für die Einwohner schaffen sollen, sie alle lösen vielschichtige Veränderungsprozesse aus. Komplexität ist das prägendste Merkmal von Veränderung.
Beobachten, Messen und Implementieren reicht nicht mehr aus, um diese Transformationsprozesse sowohl zu verstehen als auch zu gestalten. Die übliche “Beobachter-System”-Trennung funktioniert angesichts der wachsenden Komplexität wenig oder gar nicht. Neue Forschungs- und Interventionsansätze sind daher erforderlich. Die “Urbanen Reallabore” stellen einen solchen Ansatz dar.
Wissenschaft ist keine passive Beobachterin mehr
Was ist darunter zu verstehen? Ein Reallabor zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass in dessen Zentrum eine reale Problemsituation vorliegt, mit der sich verschiedene Praxisvertreter (Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft usw.) aktiv auseinandersetzen. Hieran wird die Wissenschaft bewusst eingebunden. Sie ist dabei keine passive Beobachterin, die die Vorgänge evaluiert und von außen einwirft. Sie wird ein Teil des Prozesses selbst.
Insbesondere in Baden-Württemberg werden an verschiedenen Orten Reallabore eingerichtet und gefördert:
- In Heilbronn sollen selbstfahrende Transportfahrzeuge so für die Nahversorgung im Stadtraum eingesetzt werden, dass das Verkehrsaufkommen reduziert wird.
- In Schorndorf soll ein bedarfsorientiertes, digitalgestütztes Konzept für den Öffentlichen Nahverkehr entwickelt werden, das ohne feste Haltestellen auskommt und damit den Nahverkehr ganz an die individuellen Ansprüche der Nutzer anpasst.
- In Karlsruhe soll mit digitalen Methoden untersucht werden, wie die Stadt fußgängerfreundlicher gestaltet werden kann. Präferenzen von Fußgängern sollen gemeinsam mit Bürgern erforscht und Maßnahmen zur Forderung des Fußgängerverkehrs in Experimenten getestet werden.
- In Tübingen soll mit Bürgerinnen und Bürgern ermittelt werden, wie im Stadtraum Photovoltaik, Solar- und Geothermie, Kleinwindkraft und Biomasse so ergänzt werden können, dass 50 Prozent der Versorgung durch regenerative Energiequellen erfolgt.
- In Stuttgart, Herrenberg und Meßstetten sollen digitale Verfahren und Simulationen genutzt werden, um Bürgerinnen und Bürger in die Stadtentwicklung einzubeziehen.
- U.a. in Esslingen und Heidelberg soll untersucht werden, wie durch Um- und Ausbauten von Schulen Bildungslandschaften geschaffen werden können, die individualisierte und kooperative Lernformen ermöglichen.
- In der Rhein-Neckar-Region wird untersucht, welche Faktoren die wirtschaftliche und die soziale Integration von Flüchtlingen fordern. (Quelle: NaWis)
Urban Gardening: Aufbau von Kompetenz in Zeiten von Krisen
Eine genaue Definition, Techniken und Methoden sowie Anwendungsfelder von Reallaboren bietet Prof. Dr. Uwe Schneidewind vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie in seinem Artikel “Urbane Reallabore – Ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt”.
Auch das Pestel-Institut wendet die Techniken und Methoden der urbanen Reallabore im Bereich der “Resilience Change Management” mit Transition-Town-Initiativen” zusammen. Dabei wird vor allem das Urban Gardening in der Realität einer Großstadt getestet und verbreitet. Auch das Thema der Suffizienz, also des Mehr aus Weniger, spielt in Reallabor-Projekten zunehmend eine Rolle.
Dieses Beispiel zeigt ein wichtiges Ziel der Reallabor-Projekte auf: die Stärkung von gesellschaftlichen Trends, auch um im Rahmen möglicher Krisen handeln zu können. “Urban Gardening” beispielsweise baut die Qualifikation “Nahrungsmittelanbau” in der Gesellschaft auf, was unter Umständen in der nahen Zukunft wichtig werden kann.