Bis zu 3000 Sprachen sollen vom Verschwinden bedroht sein. Auch bei der türkischstämmigen Jugend sind immer mehr Lücken in der Muttersprache zu finden. Aber es gibt auch Lichtblicke. (Foto: rtr)
Sirin Saoif
„Mit Sorge beobachten wir den zunehmenden Schwund der türkischen Sprache bei Türkeistämmigen in den europäischen Ländern“, sagt Mustafa Yeneroğlu, stellvertretender Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG).
„In vielen Moscheegemeinden wird islamischer Religionsunterricht auch in der jeweiligen Landessprache angeboten“, betont Yeneroğlu. „Der Erhalt und die Pflege der Muttersprache stehen ganz oben auf der Agenda in Form von muttersprachlichem Religions- sowie Ergänzungsunterricht oder türkischsprachigen Publikationen für verschiedene Alters- und Interessengruppen. Das soll mit dazu beitragen, dass Türkisch nicht aus dem Alltag der Menschen verschwindet, sondern als starker Mittler von Kultur und Bildung zur Verfügung steht”, so Yeneroğlu.
Die Idee, dass Einwandererfamilien mit ihren Kindern zu Hause Deutsch sprechen sollten, ist von Wissenschaftlern bereits längst widerlegt worden. Die Wissenschaft hat nämlich das Gegenteil bewiesen, so Dr. Insa Gülzow vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft: „Wenn Einwanderer mit ihren Kindern Deutsch anstelle ihrer Herkunftssprache sprechen, verschlechtert sich die Herkunftssprache bei den Kindern, ohne dass sich die Deutschkenntnisse verbessern.“ Das belege eine Studie mit russischsprachigen Kindern, durchgeführt am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) in Berlin. Außerdem könne eine schlechte Kenntnis der Herkunftssprache bei den Kindern langfristig zu Identitäts- und Beziehungsproblemen in der Familie führen.
Dr. Gülzow empfiehlt eine völlig andere Herangehensweise: „Für Kinder ist es wichtig, dass sie möglichst früh eine qualitativ und quantitativ hochwertige sprachliche Umgebung haben. Dieses Ziel lässt sich am besten dadurch erreichen, dass die Eltern in der Muttersprache und die Erzieher auf Deutsch mit den Kindern sprechen. Der regelmäßige Besuch einer Kindertageseinrichtung ist besonders wichtig, um genügend sprachlichen Input im Deutschen sicherzustellen”.
Rafet Öztürk, Sprecher des „Koordinierungsrats für die Pflege und Zukunft der türkischen Muttersprache” (Türkçem-Anadilim-Geleceğim; kurz: TAG), appelliert daher auch an die türkisch sprechenden Menschen, sich mehr für den Erhalt der Muttersprache einzusetzen: „Je mehr Sprachen ein Mensch beherrscht, desto mehr kann er der Gesellschaft und sich selbst nützen. So wie es im Ausland deutsche Sprachkurse, Kultur- und Sprachinstitute gibt, ist es auch für Deutschland ein Gewinn, wenn die Menschen hier fähig sind, mehrere Sprachen gleichzeitig auf hohem Niveau zu sprechen.“
Ähnlich argumentiert auch Staatsministerin Aydan Özoğuz (SPD), die sich gleichzeitig auch mehr Entgegenkommen von der deutschen Bevölkerung wünscht: „Wer mehrere Sprachen gut beherrscht, ist heutzutage klar im Vorteil. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, die ins Berufsleben starten. Mehrsprachigkeit bedeutet ein großes Plus ihrer Kompetenzen und erhöht ihre Erfolgschancen beim Einstieg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Leider wird dieses große Potenzial der Mehrsprachigkeit in der globalisierten Welt noch nicht von allen in unserer Gesellschaft erkannt.“