Zunächst nur flüsternd, aber zunehmend lauter spricht sich herum, dass die langjährigen Niedrigzins- und Krisenphasen keine vorübergehenden Erscheinungen mehr sind, sondern unser bisheriges „kapitalistisches“ Finanzmodell dem Ende entgegen geht. Der Grund dafür ist der weltweite, massive Geburtenrückgang, der dazu führt, dass immer mehr ältere Sparer immer weniger jungen Kreditnehmern gegenüber stehen. Wir stolpern derzeit ohne Erfahrungswissen in wirtschaftliches und gesellschaftliches Neuland.
– von Dr. Michael Blume
Gerne erinnere ich mich an die Ausbildung zum Finanzassistenten bei der Landesbank Baden-Württemberg zurück, die ich mit einer Auszeichnung abschloss. Doch als auch beim weiterführenden Studium der Volkswirtschaft grundlegende Zweifel – vor allem am Homo oeconomicus-Modell – keinen Platz fanden, stieg ich auf die Religions- und Politikwissenschaft um und wurde glücklich damit. Doch seit einigen Jahren häufen sich auch die Anfragen aus dem wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Bereich wieder, denn immer deutlicher zeichnet sich eine starke Verbindung ab: Die Demografie.
Der Kapitalismus und der weltweite Geburtenrückgang
Im klassischen – von Befürwortern wie Gegnern geschätzten – Bild des Kapitalismus stellen Vermögende Gelder als Investitions- und Kreditmittel zur Verfügung, die dann von den Arbeitnehmern gemehrt und zurück gezahlt werden. Noch immer sehr wenig beachtet wird dabei, wie sich dies auf die Strukturen von Familien auswirkt: Über Jahrzehntausende war den Menschen klar, dass die eigenen Kinder als Arbeitskräfte und Altersversorgung dienen könnten. Wo Einzelne etwas aus religiösen oder sonstigen Gründen auf Kinder verzichteten, mussten sie sich schon deshalb in den Dienst der Gemeinschaften stellen, da diese im Alter für sie sorgen würden. Der Kapitalismus veränderte dies: Gefüllte Bankkonten erscheinen nun viel rentabler, als es weitere, eigene Kinder sein könnten; diese werden also von einem Investitions- zum Kostenfaktor.
Eine Folge: Weltweit brechen die Geburtenraten ein und sind nicht nur in allen westeuropäischen Staaten, sondern auch in Ländern wie China, Russland, Japan, Türkei und Iran längst unter die so genannte Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau gefallen. Auch Organisationen wie der Club of Rome, die noch vor wenigen Jahrzehnten vor der „Bevölkerungsexplosion“ warnten, räumen inzwischen ein, dass schon bis zur Mitte dieses Jahrhunderts vom Übergang in eine weltweite Bevölkerungsschrumpfung ausgegangen werden muss.
In Deutschland sterben seit 1971 ununterbrochen mehr Menschen als noch geboren werden – und die Zuwanderer und ihre (ebenfalls immer weniger werdenden) Kinder sind darin bereits eingerechnet! Die Gesamtbevölkerungszahl bleibt dabei derzeit noch stabil, da die Lebenserwartung immer weiter steigt und weitere Zuwanderer hinzu kommen. Aber die jüngsten Generationen verebben bereits schnell: Alleine in den letzten zehn Jahren wurden in Deutschland mangels Schulkindern 15% aller allgemeinbildenden Schulen geschlossen; das sind ein bis zwei Schulen pro Tag!
Grafik aus Vortrag Dr. Blume beim Koordinierungsrat des christlich-islamischen Dialogs (KCID) (pdf)
Wir dürfen von diesem Geburtenrückgang viele positive Auswirkungen erwarten – etwa ein Nachlassen der Umweltzerstörung und Ressourcenausbeutung sowie auch ein langsames Abklingen von Kriegen und Hungersnöten. Aber es gibt eben auch negative Auswirkungen – nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaft und Finanzen.
Denn schon jetzt werden Tag für Tag mehr – vor allem ältere – Menschen zu Sparern, die ihr Kapital anbieten. Doch die Zahl der jungen Arbeitskräfte und Kreditnehmer, in die man investieren oder denen man Geld verleihen könnte, wächst schon nicht mehr mit, ja schrumpft teilweise bereits. Und das bedeutet: Sparer bekommen für ihre Einlagen immer weniger Zinsen – und manche wagen sich daher in immer gefährlichere Spekulationen etwa auf den Aktien- und Finanzmärkten. Schlecht informierte Populisten beschimpfen für das Schwinden ihrer Sparerträge die Zentralbanken oder andere vermeintlich „Schuldige“ – denen man jedoch bislang allenfalls den Vorwurf machen kann, nicht klar und eindeutig das beängstigende Grundproblem auszusprechen.
In Ländern wie den USA wurden so zuletzt auch riesige Kreditsummen an Hauskäufer vergeben, die die Rückzahlungen gar nicht mehr garantieren konnten – bis die Blase platzte.
Besonders schlimm hat der Kindermangel beispielsweise Japan erwischt, das bislang kaum Zuwanderung zuließ: Die Gesellschaft altert schnell und auch milliardenschwere Konjunkturprogramme sind verpufft, ohne die Wirtschaft wieder dynamischer zu machen.
China hat angesichts rapider Alterung seine aus Angst vor den armen Massen durchgesetzte Ein-Kind-Politik aufgeweicht und das ebenfalls unterjüngende Russland führte aus seinen Rohstoffmilliarden neue finanzielle Förderungen für Familien ein.
In Deutschland versucht der Gesetzgeber gerade, mit neuen Gesetzen die Lebensversicherer zu retten, die es nicht mehr schaffen, die garantierten Zinsen für 88 Millionen Versicherungen (Stand: Ende 2013) zu erwirtschaften. Immerhin profitiert aber unsere Volkswirtschaft aber noch enorm von Zuwanderung: Wo immer junge Leute Zugang zum Arbeitsmarkt finden, tragen sie nicht nur über Steuern und Abgaben die schwankenden Sozialsysteme mit, sondern stützen auch über Miet- und Zinszahlungen den schwächelnden Kapitalmarkt und damit das Sparvermögen der Älteren. Den in Deutschland um sich greifenden Arbeitskräftemangel nicht nur in der Gastronomie, Produktion, im Gesundheits- und Pflegesystem, sondern auch in technischen und leitenden Berufen mildern die zunehmend qualifizierten Migranten zusätzlich ab. Da sie jedoch als Nebenergebnis erfolgreicher Integration binnen ein bis zwei Generationen genau so wenig Kinder wie die Gesamtbevölkerung erhalten, vermögen Zuwanderer das demografische Verebben nur zu verzögern, nicht aufzuhalten.
Zudem wird der Wettbewerb um qualifizierte Kräfte immer härter – heute schon greift Deutschland Leistungsträger aus ebenfalls bereits schrumpfenden Ländern wie Spanien, Griechenland und Bulgarien ab, während zum Beispiel die wirtschaftlich aufstrebende Türkei von einem Aus- zu einem Einwanderungsland geworden ist. Sogar Bürgerrechte scheinen zu einem zunehmenden Faktor zu werden: Staaten, die ihren jungen Leuten Freiheitsrechte vorenthalten oder Minderheiten diskriminieren, drohen dadurch zunehmend schwer zu ersetzende Leistungsträger zu verlieren. Demografie wird also absehbar zum „Megathema“ des 21. Jahrhunderts, deren Macht Landes- und Stadtkarten sowie den Aufstieg oder Fall von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bestimmen wird.
Religionen – Teil der Lösungen?
Erfreulicherweise bekommen die Menschen aber Nachwuchs nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Generell gilt, dass religiös aktive Menschen im Durchschnitt größere Familien mit mehr Kindern begründen als ihre weniger oder nicht-religiösen Nachbarn. Mit steigender Bildung und steigendem Einkommen nehmen die Unterschiede sogar zu – Kinder werden immer mehr zur „Wertefrage“, die gegen Geld, Freizeit und Freiheiten abgewogen werden.
Schaubild aus: Michael Blume „Religion und Demografie. Warum es ohne Glauben an Kindern mangelt“, sciebooks 2014
Kann also eine einfache „Rückkehr zur Religion“ unsere kapitalistisch geprägte Welt vor dem demografischen Niedergang retten? Ganz so einfach ist es leider nicht – Religionsgemeinschaften können demografisch eine große Hilfe sein, wo sie ihre Mitglieder durch Werte und lebensnahe Lehren sowie konkret durch Kindergärten, Schulen, Stipendien usw. im Aufbau größerer Familien unterstützen. Sie können aber auch zum Problem werden, wo sie traditionalistische Vorgaben machen (zum Beispiel Mutterschaft zwingend mit langem Bildungs- und Berufsverzicht verbinden) und damit die Menschen überfordern sowie zur Abkehr vom Glauben beitragen. Heute stecken sehr viele christlich-katholisch, christlich-orthodox und auch islamisch geprägte Gesellschaften in dieser so genannten „Traditionalismusfalle“ mit schnell zurückgehenden Geburtenzahlen, wogegen vor allem christlich-evangelisch geprägte Gesellschaften wie Schweden, Island, Großbritannien und die USA eine Vielzahl von Familienmodellen und Unterstützungsangeboten etabliert und insgesamt höhere Geburtenraten erzielt haben. Die Religionen könnten also ein wichtiger Teil der Lösung sein, wo sie auch bereit sind, sich auf die Lebenssituation heutiger junger Menschen einzulassen und voneinander zu lernen. Umgekehrt müssten die Staaten darauf verzichten, die freien und meist religiösen Träger etwa von Kindergärten und Schulen als vermeintliche Konkurrenten um die knapper werdenden Kinder zu bekämpfen.
Was erwartet uns?
Aber selbst wenn kluge Wissenschaftlerinnen, Politiker, Juristinnen und Religionsgelehrte sich sofort an gemeinsame Tische setzen und umgehend Lösungen zur Stabilisierung der Kinderzahlen ausarbeiten und umsetzen würden, ließe sich der demografische Umschwung unserer Welt bestenfalls noch abbremsen, aber nicht mehr aufhalten. Das Fehlen junger Generationen, der Niedergang der Kapitalrenditen und der Übergang in ganz neue, uns noch völlig unbekannte Wirtschaftsverhältnisse sind bereits in vollem Gange und nicht mehr umzukehren. Uns erwarten Krisen und Nöte, aber sicher auch Chancen und eine neue, auch wirtschaftlich begründete Wertschätzung von Menschen und Kindern. Slogans wie „Das Boot ist voll!“ erweisen sich nicht nur als menschenfeindlich, sondern auch als dumm und ohne Zukunft. Dass wir in demografischem und wirtschaftlichem Neuland leben muss sich nun nur noch langsam herum sprechen…
Dr. Michael Blume ist gelernter Finanzassistent, Landesbeamter in Baden-Württemberg und lehrt Religionswissenschaft an den Universitäten Jena und Köln. Nach seiner Doktorarbeit über Religion & Hirnforschung spezialisierte er sich auf die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen und ist Autor mehrerer Bücher sowie des Wissenschaftsblogs „Natur des Glaubens“. Der Christ und Christdemokrat ist mit einer Muslimin verheiratet, die beiden haben drei gemeinsame Kinder.
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