Nur noch etwa 60 Prozent der Deutschen gehören einer christlichen Kirche an, und auch von den nominellen Christen gehen viele nur zu Weihnachten in einen Gottesdienst. Neben einer zunehmenden Zahl von Konfessionslosen wächst in Deutschland parallel der Anteil Andersgläubiger – von den Moslems über Hindus bis zu den Anhängern esoterischer Lehren.
In Ostdeutschland ist die Situation am ausgeprägtesten. In Manchen Landstrichen bekennen sich hier nur noch um die 20 Prozent der Menschen zum Christentum. Aber auch in einigen westdeutschen Großstädten, wie Hamburg oder Frankfurt am Main, ist bereits die Mehrheit konfessionslos. Zur gleichen Zeit leben heute etwa 4-5 Millionen Moslems in Deutschland. Tendenz steigend. Für Deutsche mit rechts-konservativem Weltbild ist das der Anfang vom Ende des christlichen Abendlands. Nicht nur bei harten AfD-Anhängern grassiert die Angst vor einer schleichenden Islamisierung.
Die Basis ist nach wie vor christlich
Doch der Eindruck täuscht. Auch wenn das Christentum im Bewusstsein vieler Deutscher heute keine große Rolle mehr spielt, sind die Kirchen doch immer noch “mächtige Institutionen”, wie der Hamburger Soziologe Hubert Knoblauch im WDR-Interview erklärt. Durch karitative und diakonische Tätigkeiten sowie als Arbeitgeber sind sie nach wie vor bedeutend. Ihre Möglichkeit, direkt auf Politik und Gesellschaft einzuwirken ist heute sicher nicht mehr so groß, wie noch in den 50er oder 60er Jahren. Dafür ist die christliche Ethik nach wie vor die Basis des westlich-abendländischen Denkens. Auch bei vielen, durch den Sozialismus geprägten, bekennenden Atheisten.
Auch der Islam unterliegt der Säkularisierung
Auch wenn Islamophobiker etwas anderes behaupten, stehen ebenso viele deutsche Muslime der offiziellen Religion indifferent bis skeptisch gegenüber. Nur etwa 20 Prozent gehören einer der im Zentralrat der Muslime organisierten Vereinigungen an. Die Verwurzelung im islamischen Glauben erscheint von außen oft stärker als im Christentum, weil die Zugehörigkeit zum Islam mehr als beim Christentum durch äußere Erkennungszeichen wie das Kopftuch oder das Einhalten von Speisevorschriften erkennbar wird. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Säkularisierung auch auf den Islam auswirkt.
Glauben ohne Religion
Man sollte nicht meinen, dass von der Schwächung der traditionellen Religionen nur das wissenschaftlich-materialistische Weltbild profitiert. Spätestens seit der Hippie-Bewegung der 1970er Jahre interessieren sich immer mehr Menschen für eine nicht-religiöse Spiritualität. Nicht wenige der nominell Gottlosen glauben an Karma oder Wiedergeburt, erwarten mehr von Geistheilern, Reiki und Homöopathie als von der rationalen Schulmedizin. Diese Menschen sind Gläubige ohne Kirche, ja ohne Religion. Sie sind Teil einer unsichtbaren Religiosität, die sich nicht so einfach in Zahlen fassen lässt, wie die Mitglieder der katholischen Kirche. Das säkularisierte Deutschland ist vielschichtiger als es auf den ersten Blick erscheint.