De-Industrialisierung: Ist die deutsche Industrie nun gestorben?

Ein Zwischenruf aus der Vergangenheit. In der Originalfassung fragte der Herausgeber von forgsight 2005, ob die deutsche Industrie stirbt. Zehn Jahre später beantwortet derselbe Essay von damals die Frage, ob die deutsche Industrie nun gestorben ist.  (Foto: Steve Jurvetson)

Die deutsche Öffentlichkeit nimmt seit einigen Jahren besorgt die zunehmende Abwanderung der deutschen Industrie ins Ausland wahr. Mit ihr geht die Angst der breiten Öffentlichkeit einher, dass immer mehr heimische Arbeitsplätze abgebaut werden. Angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, Hartz IV und krisengeschüttelter Unternehmen wirkt diese Entwicklung zunehmend bedrohlich. Neben den persönlichen Ängsten der Menschen in Deutschland müssen auch die Konsequenzen dieser Entwicklung für die Gesellschaft insgesamt diskutiert werden. Schließlich ist Deutschland ein hoch industrialisiertes Land, dessen starke Industrie heute noch als Fundament wirtschaftlicher Vormachtsstellung, von Wohlstand und Lebensqualität gilt.

Zeichnet sich mit der Abwanderung der deutschen Industrie, der so genannten De-Industrialisierung, ein Katastrophen-Szenario ab, in dem Deutschland stetig verarmt? Oder: Ist sie doch im Grunde eine große Chance für Deutschland, seine Menschen und die Wirtschaft? In den 1970er Jahren noch wurde die De-Industrialisierung nämlich als ein wünschenswerter Übergang einer hoch industrialisierten Gesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft empfunden.

Was ist De-Industrialisierung?

Zunächst kann festgehalten werden, dass für diesen Begriff scheinbar keine allgemeingültige Definition gilt. Aus den vorliegenden Quellen können zur Begriffsdefinition folgende Aspekte zusammengetragen werden: De-Industrialisierung bezeichnet eine strukturelle Veränderung der Wirtschaftsgefüge1, die in entwickelten Industrienationen verortet ist. Sie findet ihren Ausdruck in der (relativen) Abnahme der Bedeutung des produzierenden Gewerbes und zeichnet sich durch absolutes Absinken der Beschäftigung, der Produktion, der Rentabilität, des Kapitalstocks, absoluter Rückgang der Exporte und langlebige Handelsdefizite aus. Insbesondere die Globalisierung gilt als Treiber dieser Entwicklung.

Ein weiterer Faktor sind die Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK), die als alle Gesellschaftsbereiche durchdringende Basisinnovation gelten und die Wirkungen der Globalisierung verstärken. Durch sie würde der Wettbewerb der Standorte aus einer internationalen Perspektive stattfinden. Ferner werden das wirtschaftliche Erstarken anderer Länder vornehmlich aus dem asiatisch-pazifischen Raum, die Verkürzung der Produktlebenszyklen und die Entwicklung hin zu zunehmend instabilen und risikoreichen Märkten als weitere Faktoren genannt, die Druck auf die Industrien entwickelter Gesellschaften ausüben.

Schließlich ist anzuführen, dass das Phänomen der De-Industrialisierung nur selten explizit behandelt wird. Aber zur Problematik, die mit diesem Phänomen in Zusammenhang steht, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, die allerdings den Themengebieten der Sozialstruktur bzw. sozioökonomischer Strukturwandel zugerechnet werden.

Auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft

Es wäre eine verkürzte Sichtweise, die Effekte der De-Industrialisierung ausschließlich im industriellen Sektor zu betrachten. Vielmehr gibt es zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor eine (Wechsel-)Beziehung. Sie findet u.a. ihren Ausdruck in der Drei-Sektoren-Hypothese nach Jean Fourastié. In dieser unterteilt er die Produktionsstrukturen einer Volkswirtschaft in drei Sektoren: den primären Sektor (Landwirtschaft), den sekundären Sektor (Industrie und Handwerk) sowie den tertiären Sektor (Dienstleistungen).

Fourastié zufolge würden Wirtschaft und Gesellschaft sich entlang dieser Sektorenaufteilung entwickeln; vom primären Sektor zum sekundären und von dort zum tertiären Sektor,

»[…] oder mit vereinfachenden Worten: Agrargesellschaften verwandeln sich zunächst in Industriegesellschaften und Industriegesellschaften schließlich in Dienstleistungsgesellschaften. […] Die Schwerpunktverlagerung hin zum tertiären Sektor ist mit wichtigen Veränderungen in der Sozialstruktur, im Schichtgefüge und in den Lebens- und Arbeitsbedingungen verknüpft.«2

Tatsächlich zeigen viele Studien, dass in hoch industrialisierten Ländern seit den 1970er Jahren eine Verschiebung vom Industrie- zum Dienstleistungssektor stattgefunden hat. Der Anteil des tertiären Sektors an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung nahm stetig zu.

»Gute« De-Industrialisierung, »böse« De-Industrialisierung

Eine genaue Betrachtung der Prozesse des sozioökonomischen Strukturwandels und der De-Industrialisierung erfordert gegenwärtig ein differenzierteres Bild dieser Vorgänge, denn der Industriesektor nehme trotz der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten eine Schlüsselrolle in einer wissensbasierten Wirtschaft und in einer Informations- und Dienstleistungsgesellschaft ein.

So gilt er für die Europäische Union nach wie vor als »Quelle des Wohlstands« und ihm wird eine hohe Priorität bei der Gestaltung des EU-Wirtschaftsraumes zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zugesprochen. Dabei spielen zwei Aspekte eine tragende Rolle:

  1. Bei der Realisierung von Innovationen bildet eine starke Industrie die Grundlage, um die Entwicklung und wirtschaftliche Nutzung neuer oder verbesserter Produkte und Dienstleistungen sowie die Optimierung wirtschaftlicher Prozesse zu ermöglichen. Innovation verändert laufend die Märkte und schaffe neue Bereiche wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tätigkeiten.
  2. Industrie- und Dienstleistungssektor sind miteinander gekoppelt: Zum einen werden immer mehr Dienstleistungen in Verbindung mit einem Produkt bzw. einer Ware angeboten (produktbezogene und produktgebundene Dienstleistung). Ein Beispiel hierfür ist das Produkt »Handy«, das mit zahlreichen Dienstleistungen im Telekommunikationsbereich gekoppelt ist. Zum anderen lagern in der Industrie immer mehr Unternehmen Tätigkeiten aus und konzentrieren sich zunehmend auf ihre unternehmerischen Kernaktivitäten. Dies betrifft Vertrieb, Marketing, Fertigung, Gestaltung, Kundenbetreuung, Datenverarbeitung, Logistik usw. Der Industriesektor schrumpft also zugunsten des Dienstleistungssektors.

Die De-Industrialisierung drückt sich in zweifacher Form aus: durch die relative und die absolute Abnahme des produzierenden Gewerbes. Im ersten Fall steigt der Output bei gleichzeitigem Abbau von Arbeitsplätzen. Von dieser relativen Abnahme des produzierenden Gewerbes sind z.B. die Grundstoffindustrie und Hersteller von Telekommunikationsgeräten, Radio- und Fernsehgeräten, Fahrzeugen usw. betroffen. Eine andere Seite der De-Industrialisierung stellt hingegen die absolute Abnahme des produzierenden Gewerbes dar. Sie beschreibt den Abbau von Arbeitsplätzen bei gleichzeitigem Rückgang des Outputs und stellt eine existentielle Bedrohung für die betroffenen Industriebranchen dar. In Europa sind von dieser Entwicklung Textil und Bekleidung, Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden, Mineralölverarbeitung usw. betroffen.

Aus der Perspektive einer einzelnen Volkswirtschaft mag die relative De-Industrialisierung wünschenswert sein, die absolute De-Industrialisierung kann hingegen als Bedrohung aufgefasst werden.

Regionale Konzentrationen im globalen Kontext

Zur Bedeutung der De-Industrialisierung in Europa schreibt die EU-Kommission:

»Es sollte zunächst klargestellt werden, dass Sorgen über Deindustrialisierung und Standortverlagerung ihre Ursachen in einer unvollständigen Wahrnehmung der Wirtschaftsrealität zu haben scheinen. Internationale Verlagerungen von Industriestandorten spiegeln Veränderungen bei den komparativen Kostenvorteilen wider«.3

Im Lichte der Globalisierung und der internationalen Arbeitsteilung bilden sich durch Standortverlagerungen in den einzelnen Regionen unternehmerische Schwerpunkte heraus, wie die Verlagerung

  • arbeitsintensiver Produktionen in die Niedriglohnregionen Ost- und Mitteleuropas,
  • von (rechtlich-verselbständigten) Beteiligungs- und Finanzierungsabteilungen großer Konzerne in europäischen Finanzzentren,
  • von Logistikzentren an bestimmten Verkehrsachsen bzw. -kreuzen,
  • technologieintensiver Produktionen und Forschungszentren an Universitäts-Standorten, die entsprechend ausgestattet sind.

Für den EU-Wirtschaftsraum zeichnet sich ab, dass vor allem arbeitsintensive Niedrigtechnologiebereiche von Standortverlagerungen betroffen sind. Diese Verlagerungen erhalten jedoch alte oder schaffen neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor des jeweiligen Heimatlandes.

»Diese sich ändernde Spezialisierung spiegelt eine Änderung der komparativen Vorteile wider, d.h. die EU erhält personal- und technologieintensive Arbeitsplätze, die durch hohe Produktivität und hohe Löhne gekennzeichnet sind.«3

Beispiele hierfür sind Biotechnologie-Unternehmen im Umkreis von München und Stockholm oder Textil-Unternehmen in Nord-Italien. Die Europäische Kommission fasst zusammen, dass die De-Industrialisierung einen schmerzhaften Anpassungsdruck bewirkt, »der sich jedoch positiv auswirkt, da die Ressourcen kontinuierlich in die Branchen verlagert werden, in denen komparative Vorteile bestehen. Der mittel- bis langfristige Trend […] ist vielmehr Ausdruck dieses Anpassungsdrucks als einer Deindustrialisierung.«4

Wo bitte geht es zur Wissensgesellschaft?

Zunächst ist festzuhalten, dass die Existenz eines Phänomens De-Industrialisierung in Frage zu stellen ist. Die Ausgangsfrage, ob die deutsche Industrie ausstirbt, muss jeweils in den unterschiedlichen Industriebereichen gestellt und beantwortet werden.

Während arbeitsintensive Arbeitsplätze ins Ausland, insbesondere in die Entwicklungs- und Schwellenländer aufgrund der deutlich niedrigeren Löhne abwandern, ist ferner anzunehmen, dass forschungs- und technologieintensive Industriebereiche den deutschen Standort wegen der Vorzüge des deutschen Bildungs- und Ausbildungswesens – trotz PISA – vorziehen werden.

Insbesondere Länder im asiatisch-pazifischen Raum holen gegenüber entwickelten Gesellschaften in Forschung und Wissenschaft stetig auf. Indien gilt bereits als eine IT-Hochburg. Aufgrund der Fortschritte in den IuK-Technologien sind Aufträge in der IT nicht lokal gebunden. Ein anderes Beispiel stellen die Dienstleistungen der Call-Center dar. Vor allem im englischsprachigen Raum werden Call-Center-Aktivitäten nach Indien verlagert. Diese Ausführungen machen deutlich, dass Wissen schon heute ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist, wobei hierunter auch Innovationsfähigkeit, Bildung, Forschung und Wissenschaft subsumiert sind.

Die De-Industrialisierung an sich stellt für die deutsche Wirtschaft keine essentielle Bedrohung dar. Sie wird aber als eine wahrgenommen, weil es den wichtigsten Akteuren in Deutschland, der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Gewerkschaften, nicht gelingt über Hartz IV, Elite-Universitäten oder »Kohle«-Subventionen hinaus die großen Linien für die Zukunft Deutschlands zu zeichnen und diese auch umzusetzen.

 Fußnoten:
1 Grabher, Gernot: De-Industrialisierung oder Neo-Industrialisierung? Innovationsprozesse und Innovationspolitik in traditionellen Industrieregionen, 1998
2 Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands, 2002
3 Kommission der Europäischen Gemeinschaft: Einige Kernpunkte der europäischen Wettbewerbsfähigkeit – Hin zu einem integrierten Konzept (Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament), Brüssel 21.11.2003
4 Kommission der Europäischen Gemeinschaft: Den Strukturwandel begleiten – Eine Industriepolitik für die erweiterte Union (Mitteilung der Kommission), Brüssel 20.04.2004

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  1. forgsight.com – Soziologen: Von altruistischen Proteststrickern zu modernen Gesellschaftsingenieuren

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