„Asyl habe keine Obergrenze.“, sagte die Bundeskanzlerin. Trotzdem wurden in Süddeutschland die Grenzkontrollen eingeführt. Um den wachsenden Migrationsdruck in der nahen Zukunft beherrschen zu können, benötigt Deutschland eine eindeutige und gradlinige Einwanderungspolitik, fordert Kamuran Sezer. Sonst droht der Kollaps.
„Komm’, Kind! Geh jetzt!” – Wenn Eltern ihr Kind nicht mögen und ihm ein Leben aus Unentschlossenheit und Enttäuschung bereiten möchten, dann müssen sie genauso mit ihm umgehen: mit Widersprüchen ausgestattete Aussagen, aus der das Kind nicht klar ableiten kann, was es jetzt machen soll. Kommen oder doch gehen?!
“Du bist doof! Mach Hausaufgaben!”. Es ist nicht einmal nötig, Worte dafür zu benutzen. Man kann auch den Kopf schütteln und dabei lächeln, wenn das Kind um etwas bittet. Oder man legt die Hand auf die Schulter und rollt mit den Augen.
Die Gastarbeiter, die gehen sollten, aber geblieben sind
Was mikrosoziologisch in einer Familie beobachtet werden kann, findet man makroziologisch in der Bundespolitik wieder. Ein gesellschaftspolitisches Themenfeld, auf dem die Bundesregierungen seit den 1970er Jahren diese Indifferenz praktizieren, ist die Einwanderungspolitik.
Über die vergangenen Jahrzehnte hatte sie immer wieder verschiedene Namen. Im Endeffekt aber ging es bloß um die Frage, wer und wie viele dürfen nach Deutschland kommen. Politischer Konsens war stets so wenige wie möglich. Die migratorische Realität drückte aber so viele wie nötig in dieses Land rein.
Flüchtlinge und Asylsuchende, Familienangehörige, Heiratsmigranten, Manager-Expats und hochqualifizierte Fachkräfte sind nach Deutschland gekommen und haben hier eine Existenz aufgebaut. Eigentlich das übliche Allerlei an Migrationstypen, mit dem jedes andere freie Land auf dieser Welt auch konfrontiert ist.
Die deutsche Besonderheit: die dafür vorgesehene policy field der Einwanderungspolitik hat stets die Augen vor dieser Realität verschlossen, so dass dieses Handlungsfeld viele Jahrzehnte unkontrolliert gedeihen konnte.
Die Gastarbeiter, die gehen sollten, aber doch geblieben sind. Deren Kinder, die ihre Muttersprache lernen sollten, damit sie den Anschluss an die Heimat nicht verlieren, heute aber Deutsch besser als ihre Muttersprache beherrschen. Flüchtlinge und Asylanten, die nie kommen sollten, aber trotzdem gekommen sind.
Einwanderung und Zuwanderung: Ausdruck einer Indifferenz
Das ist die Quadratur der deutschen Einwanderungspolitik: Sie läuft mit großem Abstand der Lebenswirklichkeit hinterher! Auch jetzt noch. Die Begriffe Zuwanderer und Einwanderer sind Ausdruck dieser Indifferenz.
Sie stehen für unterschiedliche realpolitische Inhalte. Der Zuwanderer kommt zu dieser Gesellschaft hinzu, der am besten unausgesprochen wieder gehen soll. Der Einwanderer hingegen kommt herein, auch um dauerhaft zu bleiben, verbunden mit dem Recht an dieser Gesellschaft teilzuhaben und sie mitzugestalten.
Wenn die Bundesregierung heute über Deutschland behauptet, dass es ein Einwanderungsland sei, in dem Zuwanderer willkommen sind, dann ist dies der Ausdruck von Indifferenz und Inkonsequenz, die in der Tradition der deutschen Einwanderungspolitik liegt.
Doch wir haben ein sehr großes Problem. Der Bundesinnenminister hat vor kurzem verkündet, dass bis zum Ende dieses Jahres über 800.000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet werden. Angesichts der vielfältigen Probleme, die Kommunen, die Zivilgesellschaft aber auch die Flüchtlinge selbst bewältigen müssen, ist eine innerliche Unruhe, die man spürt, sehr berechtigt. Dabei ist dieser aktuelle Blick gleichzeitig ein wichtiger Hinweis für die Zukunft.
Einige Demografieforscher führen an, dass jedes Jahr zwischen 300.000 bis 400.000 ausländische Fachkräfte benötigt werden, um den Bedarf zu decken, der sich durch den demografischen Schwund ergibt. Wenn dieses Land heute mit 250.000 Flüchtlingen überfordert ist, lässt vermuten, dass eine künftige Einwanderung von 400.000 Fachkräften eine physikalische Unmöglichkeit darstellt.
Mauern bauen, wie Sarrazin gefordert hat
Im Lichte dieser Entwicklungen muss ich seit einigen Wochen an Thilo Sarrazin denken. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass er mit “Deutschland schafft sich ab” ein fachlich desolates Buch geschrieben hat. Normalerweise dienen empirische Datenmaterialien, um Thesen zu überprüfen und hieraus Theorien, Modelle oder Prognosen abzuleiten. Er aber hatte eine Prognose, für die er die passenden Daten hervorgehoben hat, oder sie normativ deformiert hat, um sie passend zu machen.
Einer seiner politischen Forderung habe ich aber für ihre Gradlinigkeit auch damals geschätzt, als ich ihn vehement kritisiert habe. Dabei plädierte er, am besten Europa aber mindestens Deutschland “einzumauern”. Damit meinte er, Deutschland von den globalen Dynamiken der Migrationsströme, der Weltwirtschaft und Weltpolitik für eine gewisse Zeit abzukapseln.
Amüsantes Nebenthema: Die Gründungsmythologie der türkischen Ultranationalisten entspricht genau der Forderung Sarrazins. Den Legenden zufolge haben die durch Vertreibung und Krieg geschwächten Urtürken sich im wahrsten Sinne des Wortes eingemauert bis sie sich erholt haben, um gestärkt ein Imperium zu bauen.
Sarrazins Forderung teile ich zwar nicht. Als Analyst aber sage ich, dass diese Gesellschaft und ihre Eliten sich für eine eindeutige Richtung entscheiden müssen. Sollen jetzt Menschen aus dem Ausland nach Deutschland kommen oder nicht?
Wenn sie nicht kommen sollen, dann müssen wir, wie Sarrazin fordert, mit allen erforderlichen Ressourcen und Kräften eine Mauer um Deutschland bauen. Das ist legitim. Das ist konsequent. Kurzfristig fatal aber vielleicht eine sinnvolle Langfrist-Strategie.
Eine Zwischending-Lösung produziert Ressentiments
Wenn diese Menschen aber kommen sollen, dann müssen alle politischen und ökonomischen Ressourcen jetzt darauf ausgerichtet werden, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu machen. Dies setzt einen entsprechenden Zeitgeist, eine moderne Bürokratie, eine diversitätskompetente Wirtschafts- und Arbeitswelt – und vor allem ein Einwanderungsgesetz voraus.
Manche behaupten, dass es dafür zu spät ist. Das Schöne an Politik ist aber, dass sie etwas wie “zu spät” nicht kennt. Was sich verändert sind die gesellschaftspolitischen Kosten. Die Ereignisse in Heidenau oder Freital sind diese erhöhten Kosten, die ich meine. Die Fehler der Vergangenheit zu beheben, die richtigen Maßnahmen zu entwickeln und sie durchzusetzen, wird teuer werden.
Eine Zwischending-Politik wie jetzt produziert sowohl auf der Seite der Migranten als auch auf der Seite der Einheimischen Unsicherheiten, die wiederum auf beiden Seiten zu Ressentiments führen können. Der Xenophobie der einen steht die Westernphobia der anderen gegenüber.
Eine klare und eindeutige Einwanderungspolitik, ob sie jetzt Mauern oder offene Grenzen vorsieht, ist für die Zukunftsfestigkeit und Handlungsfähigkeit der Gesellschaft fundamental. Wie auch immer sich diese Gesellschaft entscheiden möchte – Hauptsache sie entscheidet sich.
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