Brexit: Sein oder nicht in der EU sein? Das ist die Frage…

Unabhängig von seinem Ausgang wird die britische Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft am 23. Juni Großbritanniens anhaltende und tiefgreifende außenpolitische Identitätskrise  nicht überwinden können. Ein Kommentar aus London. 

Unter Historikern ist ein Flügelwort des damaligen amerikanischen Außenministers Dean Acheson aus dem Jahr 1962 in einer Rede an der Heeresakademie in West Point geläufig, demzufolge Großbritannien sein Weltreich verloren und noch keine neue Verwendung für sich entdeckt habe. Dieser Satz illustrierte glänzend die postimperiale Identitätskrise des Vereinigten Königreiches in seinem Selbstversändnis als Großmacht, welche unter veränderten Vorzeichen bis heute anhält.

Aus diesem Grund ist das EU-Referendum vor allen von Befürchtungen zur Langlebigkeit des politischen Kapitals Großbritanniens auf der Weltbühne angetrieben, vor allem in militärischer Hinsicht, und nicht allein von der Substanz seiner Beziehungen zur Europäischen Union.

Atlantik war mal zentrales Handelsmedium

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein begünstigten die vorherrschenden geoökonomischen Verhältnisse, in dem der Atlantik das zentrale Handelsmedium darstellte, die Handels- und Seemacht Großbritannien. Dem seit der Neuzeit beispiellos schnellen und scharfen Rückverlagerung weltweiter Kommunikationsströme in den Pazifik, der den Atlantik im Jahr 1991 als führendes Handelsmedium ablöste, begegnet das vordereurasische Archipel mit gemischten Gefühlen.

Einerseits überragt das asiatisch-europäische Handelsvolumen seine transatlantischen und transpazifischen Gegenstücke, andererseits strömt dieses zum allergrößten Teil von Ost nach West. Dieser Trend hat wiederum Großbritanniens Verwandlung in eine Dienstleistungswirtschaft mit vorangetrieben, von der innerhalb der britischen Gesellschaft vor allem Finanzinstitute am Londoner Standort profitieren, die in ihrer Dynamik mit dem Standort New York konkurrieren.

Gleichzeitig schrumpt der Anteil der EU-28 an der Weltwirtschaft, gemessen am Bruttonationaleinkommen, schneller als der der USA. Deshalb führen viele Befürworter eines britischen Austritts an, dass die ausschließliche Anbindung an den Gemeinsamen Markt Potenziale in Wachstumsmärkten jenseits der EU vergeudet.

Abkehr von „Europe first“-Politik Trumans

Jüngere geopolitische Entwicklungen tragen den wirtschaftlichen Gegebenheiten zunehmend Rechnung. Im Jahr 2012 erklärten die Vereinigten Staaten ihren vielzitierten “Pivot to Asia”, eine bewusste Verlagerung ihrer allgemeinen geopolitischen Priorititäten in den indopazifischen Raum. Diese Politik stellte, zumindest in ihren Absichten, eine Abkehr sowohl von der Verlängerung der “Europe First”-Politik Trumans in den Kalten Krieg als auch eine beabsichtigte Marginalisierung des medial und politisch vorherrschenden Nahen Ostens ein.

In beiden Regionen diente das Vereinigte Königreich den Vereinigten Staaten als zentraler und manchmal alleiniger Partner und Vermittler zur Verfügung, wodurch es der amerikanischen Ordnungsvorstellung des liberalen Internationalismus einen bedeutenden Legitimationsschub verlieh. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist Großbritannien jedoch in keiner seiner beiden Anliegerregionen jenseits von Handelsfragen als unabhängige Ordnungsmacht in Erscheinung getreten und eifert auch der zunehmenden Zuwendung zum Pazifik nach.

Grund für die zunehmende Wirkungslosigkeit der britischen Außen- und Sicherheitspolitik, die vor allem in konservativen Kreisen des Commonwealth als Europäisierung geringeschätzt wird, ist die Ziellosigkeit der britischen Verteidigungspolitik, die sich in einer billigend in Kauf genommenen, schleichenden Verkleinerung der Royal Navy darstellt, dem zentralen strategischen Instrument britischer Großmachtpolitik. Allein zwischen den Jahren 2010 und 2015 verlor die Flotte siebzehn Prozent seiner Schiffe im Rahmen der verteidigungspolitischen Bestandsaufnahme namens Strategic Defence and Security Review.

Unfähig auf geostrategische Risiken und Weltlagen zu reagieren

Nach derzeitigem Stand ist die Royal Navy kleiner als die Flotille, welcher 1982 die Rückeroberung der Falklandinseln befohlen wurde. Durch sukzessive Sparmaßnahmen ist die britischen Streitkräfte trotz ihrer unverminderten Professionalität, ihrer hochentwickelten logistischen Kompetenz und ihres reichen Erfahrungsschatzes materiell die Fähigkeit abhanden gekommen, unabhängig von Bündnispartern auf geostrategische Risiken oder die Weltlage gestaltend Einfluss zu nehmen. Die Nationale Sicherheitsstrategie des Jahres 2010 erklärte hierzu, dass Großbritanniens politisches, wirtschaftliches und kulturelles Kapital seine geografische Dimensionen bei weitem übertreffe. Implizit ist zu Letzterem auch seine sich verringernde strategische Reichweite zu zählen.

Trotz engster sicherheitspolitischer, nachrichtendienstlicher und kultureller Beziehungen zu den Vereinigten Staaten untergräbt die nachhaltige haushaltpolitische Prägung der britischen Streitkräfte die weltweite Glaubwürdigkeit des Vereinigten Königreiches. Dauerhaften Schaden richtete beispielsweise die Unterfinanzierung und mangelnde Krisenplanung der schwerpunktmäßigen Verlagerung des britischen Heeres aus dem Südirak in die afghanische Provinz Helmand im Jahr 2004 an, bei der sich das Londoner Verteidigungsministerium letztendlich auf die amerikanischen Streitkräfte wie auf einen Flaschengeist verlassen musste.

Weitere Schwächen offenbarte die britisch-französisch geführte Bombardierung Libyens im Jahr 2011, die innerhalb weniger Wochen die Erschöpfung ferngelenkter Munition zu Tage förderte. Das strategische Scheitern Großbritanniens im erweiterten Nahen Osten hat darüber hinaus zu einer verstärkten Kriegsmüdigkeit in der britischen Wählerschaft geführt, die die Bereitschaft zu weiteren Einsätzen vor allem in dieser Weltgegend entscheidend schmälert. Die Verrechnung dieser Kriegsmüdigkeit mit einem fortschreitenden Schwund militärischer Macht verringert aus amerikanischer Perspektive, trotz nostalgischen Wohlwollens, gleichwohl den Wert der gleichermaßen politisch wie rhetorisch überstrapazierten special relationship zum Vereinigten Königreich.

London gefährdet seine „Einzigartigkeit“

Diese verlieh London die Rolle als primus inter pares unter den weltweiten Verbündeten, welche dem Archipel traditionell die gleichzeitige europäische Führungsrolle innerhalb der NATO und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auftrug. In Zeiten, in denen Polen und Griechenland (siehe Seite 6) seit Jahren ihrem Verteidigungshaushalt proportional einen größeren Stellenwert einräumen und das Vereinigte Königreich zunehmend seine innerhalb der NATO angemahnten Zuweisung zweier Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu Verteidigungszwecken zu unterschreiten droht, gefährdet London seine proklamierte “Einzigartigkeit” innerhalb Europas, von der es derzeit zehrt.

Da die Vereinigten Staaten ihrem Selbstverständnis nach die europäische Integration sicherheitspolitisch im Rahmen der NATO und wirtschaftlich im Rahmen der EU gefördert und mitgestaltet haben, würde ein Brexit die allgemeine weltpolitische Relevanz Großbritanniens jenseits aller kulturellen Bewunderung, nuklearen Rüstung und der ständigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat auf lange Sicht aushöhlen.

EU – Bändigung ethnisch-nationalistischer Chauvinismen

In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union einzigartig, da es in sich selbst einen übernationalen Staat darstellt, eine Eigenschaft, die es in Europa allein mit der Schweiz teilt. Viele kontinentaleuropäische Eliten, vor allem in Deutschland und Frankreich, erachten die Europäische Union und den politischen Einigungsprozess (verständlicherweise) als Instrument zur Bändigung ethnisch-nationalistischer Chauvinismen.

Britische Traditionalisten berufen sich demgegenüber auf eine mindestens 350-jährige repräsentative, rechtsstaatliche und vor allem lokalautonome Kontinuität, die nach innen wie nach außen hin mehrfach absolutistische, und autoritäre und andere Zentralisierungstendenzen abgewendet hat. Die latent auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust abstellende Legitimation der europäischen integration greift daher auf den britischen Inseln kaum. Vor allem die englisch-schottischen Vereinigungsgesetze von 1707 kodifizierten die Fusion aller Verfassungsorgane innerhalb eines multiethnischen Staates, also noch vor der globalen imperialen Betätigung Großbritanniens.

Mitsamt der Devolutionspolitik, also der nachhaltige subsidiaren Verlegung gewichtiger politischer Kompetenzen in die Nationenparlamente, bietet dieser staatspolitische Hintergrund vor allem den nationalistischen schottischen, walisischen und irisch-republikanischen Parteien eine Bühne. Auf dieser können sie ihre sezessionistischen Ansprüche in eine antimonarchische, modernisierende, wohlfahrtsstaatliche, latent populistische und integrationsfreundliche Europapolitik kleiden. Diese Ansätze werden dem tendenziell von England und London dominierten britischen Establishment gegenübergestellt.

EU-Austrittsreferendum und Donald Trump

Die Nationalparteien argumentieren beispielsweise in der Debate zur millardenschweren Erneuerung des unterseebootgestützten nuklearen Abschreckungsmittels Trident vor allem im Rahmen einerer gesamteuropäischen und an der Abrüstung orientierten Sicherheitspolitik für deren Außerdienststellung. Unionisten, Konservative und Freihandelsunterstützer stellen im Unterschied dazu auf eine im globalen Rahmen latent fortbestehende Großmachtkonkurrenz ab, die sich global beispielsweise in nuklearer Rüstung, russischer Agression gegen die Ukraine oder Provokationen im britischen Luftraum oder in den fortbestehenden Bündnisverpflichtungen des Landes äußert, vor allem den Vereinigten Staaten und Frankreich gegenüber, und befürworten die Modernisierung des Systems.

Das Aufeinandertreffen geopolitischer Veränderungen mit zunehmender sozioökonomischen Spannungen und den relativen Autoritätsverlust des Westens seit den 1990er Jahren bedingen in vielen liberalen Demokratien ein Unbehagen, welches in Großbritannien das EU-Austrittsreferendum gleichermaßen befeuern wie der latente Unmut über die Entwicklung der EU an sich. In diesem Sinne spiegelt die Identitätskrise Großbritanniens diejenige der USA wider. Trotz erheblicher stilistischer Unterschiede zum Wahlkampf Donald Trumps gleichen sich beide Kampagnen in ihrer Themenauswahl, beispielsweise die jeweilige relative wirtschaftliche Stagnation oder Verhinderung, Unterbeschäftigung, Einwanderung und die staatliche Souveränität.

Trumps Anziehungskraft besteht in seiner charismatischen Inszenierung, die die Bedürfnisse seiner Anhänger gezielter anspricht als seine politischen Konkurrenten, die ein rational-etabliertes Führungsmodell vertreten. Genau jenes Bedürfnis vermag jedoch liberalkonservativen Euroskeptikern zum Pyrrhussieg gereichen. Hierzu zählen beispielsweise der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, Justizminister Michael Gove und der konservative EU-Parlamentsabgeordnete Daniel Hannan, deren Zuspruch zum EU-Austritt mit einer globalen Freihandelsvision einhergeht.

Auch nach 23. Juni wird es ungewiss bleiben

Diese wird jedoch von einer breiten Masse ihrer politischen Verbündeten eben nicht geteilt, die vor allem den Europäischen Binnenmarkt ablehnen und diesen für ein Projekt der Londoner “Metropoliten” oder der “urbanen Elite” halten. So stehen viele geringqualifizierte Arbeitnehmer, wie in anderen postindustriellen Gesellschaften auch, in zunehmender Konkurrenz zueinander, wofür sie im britischen Kontext die Personenfreizügigkeit der EU verantwortlich machen. Dies äußert sich oft in der stereotypischen Chiffre des polnischen Handwerkers oder der rumänischen Putzfrau und geht gerade im dicht besiedelten britischen Südosten mit Unmut über mangelnde Investitionen in den Wohnungsbau, öffentliche Dienste oder die Infrastruktur einher.

Unter umgekehrten Vorzeichen haben die schottischen Nationalisten zwischenzeitlich angekündigt, im Falle eines Austritts ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vorantreiben zu wollen. In diesem Sinne wird das Plebiszit am 23. Juni die der Abstimmung zugrundeliegende Spannung zwischen traditionalistischer Großmachtnostalgie und Großbritanniens tatsächlichem Einfluss auf der Weltbühne kaum auflösen können, zumal Rücktritte politischen Führungspersonals bis hin zu Premierminister Cameron bevorstehen könnten. Die außenpolitische Zukunft des Vereinigten Königreiches wird demzufolge auch nach dem 23. Juni 2016 ungewiss bleiben.