Michael Blume – nicht nur ein Beamter und Familienvater sondern auch ein Religionswissenschaftler, der forscht, lehrt und schreibt. Nach seiner Doktorarbeit über Religion & Hirnforschung spezialisierte er sich auf die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen, deren Ergebnisse derzeit sowohl Atheisten wie Gläubige herausfordern. Der Christ und Christdemokrat ist mit einer Muslimin verheiratet und im interreligiösen Dialog auch heftigen Gegenwind gewohnt. (Foto: forum-grenzfragen.de)
– von forgsight
1. Seien wir mutig und blicken in die Zukunft: Es ist der 31. Dezember 2037. Wie werden Sie Sylvester feiern?
Nachdem wir Weihnachten mit Kindern und Enkeln besinnlich und klassisch gefeiert haben, senden wir uns alle Grüße zu Silvester oder auch Yılbaşı (türkisch: Neujahr), denn wir sind weiterhin eine christlich-muslimische Familie mit echt vielen Feiertagen. Eine Enkelin hat sich aus Istanbul zugeschaltet und ein Sohn schickt ein 3D-Video mit seiner Familie aus Seattle. Dafür unterbrechen meine Frau und ich auch unsere virtuelle Wanderung durch die Geschichte der Hanse auf dem Holoplayer, den wir zu Weihnachten geschenkt bekommen haben.
2. Software, die mit dem Menschen denken. Searchbots im Internet. Roboterarme in der Industrie. Roboter bald auch in der Pflege, im Klassenzimmer und an der Kasse. Es gibt Leute, die sagen, dass wir Menschen in der Zukunft mit Robotern leben werden. Wie soll Ihr persönlicher Roboter in der Zukunft aussehen?
Um 2005 verzichtete ich auf ein eigenes Auto, weil mich die Öl- und Zeitfresser nicht mehr überzeugten, und ich lieber lesen statt im Stau stehen wollte. Aber 2035 habe ich mich endlich von einem SmartDaimler überzeugen lassen, der von Solarstrom betrieben wird, vollautomatisch und sicher fährt und dessen freundliche Stimme mir morgens auf dem Weg ins Büro einen fair gehandelten Kaffee und die interaktive Morgenzeitung auf dem hauchfeinen ePaper anbietet. Ich bin aber auch aktives Mitglied in der Digitalbürgerallianz, die quer durch die demokratischen Parteien dafür kämpft, dass weder Staat noch Unternehmen Daten missbrauchen und damit unsere Freiheit zerstören.
3. Altkanzler Helmut Schmidt sagte mal, wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen. Welche Vision von der Zukunft würden Sie Ihrem Arzt erzählen?
Ich würde von der Vision einer Welt erzählen, in der Religion und Wissenschaft nicht mehr von Halbgebildeten als Gegner aufgefasst werden, sondern als die beiden Beine, auf denen die Menschheit in die Zukunft schreitet und nach den Sternen greift.
4. Hand auf’s Herz. Was stinkt Ihnen an der Gegenwart?
Die Arroganz von uns Menschen. Wir halten uns so gerne für die Spitze des „Fortschritts“, auch wenn wir dabei die Umwelt zerstören, Schulden aufhäufen und durch unseren Individualismus beziehungsunfähig, kinderarm und zukunftslos werden. Derzeit können wir unseren relativen Wohlstand nur halten, weil wir ärmere Menschen im In- und Ausland ausbeuten und uns vor dem Unrecht in anderen Erdteilen wegducken. Manchmal ahnen wir, warum uns das nicht wirklich glücklich macht; aber wir sind meistens noch immer zu bequem, uns selbst in Frage zu stellen.
5. Warum wäre es denn wirklich schlimm, wenn der technologische Fortschritt die Menschen verdrängt?
In meinem neuen Buch „Religion und Demografie. Warum es ohne Glauben an Kindern mangelt“ habe ich ausführlicher über die faszinierende philosophische Frage der Anthropodizee geschrieben – der Frage, ob die Existenz und Fortpflanzung der Menschheit überhaupt gerechtfertigt werden kann. Interessanterweise zeigen spezialisierte Philosophen wie Karim Akerma, dass darauf bislang keine nichtreligiöse Philosophie eine überzeugende Antwort gefunden hat. Wenn das Universum nur aus Zufall entstanden, sinn- und ziellos sei, sei auch das zeitliche Zwischenspiel der Menschheit belanglos. Wer den Himmel leerräumt, hat im Durchschnitt zu wenig Kinder und schafft eine verebbende Kultur.
6. Es ist 1. Januar 2042. Wie verlaufen die Grenzen Europas?
Die demografisch vergreisende Europäische Union hat sich mit der Mittelmeerallianz verbunden, zu der unter anderem die Türkei, Syrien, Israel und die Staaten Nordafrikas gehören. Aber nicht mehr die Nationalstaaten, sondern die mehr oder weniger erfolgreichen Stadtregionen wie London, Paris, Stuttgart, Wien, Tel Aviv, Kairo und Istanbul konkurrieren um den Zuzug junger Leistungsträger, während ländliche Regionen in allen Ländern rapide ausdünnen und teilweise verwildern. Integration und Dialog gehören zu den Kernkompetenzen erfolgreicher Politikerinnen und Politiker und die Vielfalt lebendiger und also kinderreicher Kirchen und Religionsgemeinschaften gilt als wertvoller Standortvorteil. Autoritäre Regime wie in Russland, Ungarn, Ägypten oder der Türkei haben sich nach repressiven Jahrzehnten wieder geöffnet, um die Abwanderung junger Generationen zu stoppen, die sich in Freiheit entfalten wollen.
7. Unsere Leserinnen und Leser sind sehr auf die Antwort dieser Frage gespannt: Wie machen Sie sich fit für die Zukunft?
In der Evolution geht es immer um die nächste Generation und die Religion nimmt uns die Last, alles in dieses Leben packen zu müssen. In der Wissenschaft bestaune ich die unfassbar großartige Kette des Lebens und danke im Gebet dafür, ein winziger Teil dieses Geschehens sein zu dürfen. In meiner Familie und vor Gott finde ich alle Zukunft und Heimat, die ich mir wünschen kann.