Je suis Charlie – und was jetzt…!?

Mut, Meinungs- und Pressefreiheit, eben die Werte Europas, wurden nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo betont. Doch aus dieser Solidarität ist nicht die Euphorie und die Aufbruchsstimmung hervorgegangen, die sie hätte auslösen können. (Foto: cn)

-von forgsight

Die Stimmung ist merkwürdig. Dabei sollten wir glücklicher, optimistischer und zuversichtlicher sein.

Nach dem furchtbaren wie feigen Attentat von Extremisten auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, bei dem zwölf Menschen ermordet wurden, trat nicht die Spaltung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa ein, die diese Terroristen offensichtlich angestrebt hatten. Sie sind gescheitert. Die Menschen, die sie spalten wollten, sind zusammengerückt. Zehntausende, und vielleicht Hunderttausende, haben europaweit Seite an Seite gegen Terrorismus und für Toleranz demonstriert, unabhängig ihrer Ethnie, ihres Glaubens und ihrer Überzeugung. Diese Terroristen haben ihr eigenes Leben für ein Ziel vergeudet, das sie nicht erreicht haben. Eine größere Strafe kann ich mir nicht vorstellen: Das eigene wertvolle Leben für eine Sache zu opfern, die moralisch nicht nur verwerflich ist, auch wenn man es anders sieht, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat. Dafür stehen ihre Opfer rund um Charlie Hebdo für Mut, Meinungs- und Pressefreiheit, eben für die Werte Europas, die nun heller leuchten als zuvor.

Doch aus dieser Solidarität ist nicht die Euphorie und die Aufbruchsstimmung hervorgegangen, die sie hätte auslösen können.

 

Entschuldigung für Druckfehler

Denn am nächsten Tag schon haben Zeitungen aus Solidarität die Karikaturen aus Charlie Hebdo gedruckt. Eine durchaus nachvollziehbare und verständliche Aktion. Merkwürdig nur, dass solche Zeichnungen besonderen Platz eingenommen haben, in der explizit der Prophet Muhammad Gegenstand der Satiren bildete. Bezeichnend war auch, dass eine Zeitung fälschlicherweise eine Karikatur abgedruckt hat, die sich über Juden lustig machte. Prompt folgte die Entschuldigung für den Druckfehler.

Die Solidarität, die Euphorie hätte werden können, wich einem mulmigen Gefühl, dass sich doch nichts geändert haben könnte. Denn wieder mussten Muslime in Deutschland das indifferente und widersprüchliche und daher wenig glaubwürdige Verhalten der Mehrheitsgesellschaft erleben: Wenn Muslime Gegenstand der Satire sind, die an Beleidigung, Diffamierung und Herabsetzung grenzt, ist es Presse- und Meinungsfreiheit. Andere Gruppen werden anders, ja sogar bevorzugt behandelt, so zumindest der Eindruck, der bei Muslimen entsteht. Obwohl dieses Mal alles anders war…

Da tun die muslimischen Verbände und die Muslime selbst genau das, was die deutsche Öffentlichkeit seit Jahren fordert: Sich glaubhaft von den Taten jener Menschen distanzieren, mit denen sie dieselbe Religion teilen. Muslime haben gebloggt, haben auf Facebook und Twitter gepostet, sich in Dutzenden Radio- und Fernsehinterviews wiederholt, in den Freitagsgebeten die Taten verurteilt und in zahlreichen offenen Briefen Stellung gegen diesen feigen Terroranschlag eingenommen und ihre Solidarität ausgedrückt. Da hat der Zentralrat der Muslime und die Türkische Gemeinde zu Berlin eine Mahnwache veranstaltet, die nicht nur von nahezu der gesamten deutschen Regierungsriege unterstützt wurde. Tausende Menschen haben ihr beigewohnt.

Europa: Plump, rücksichtslos, unzivilisiert

Das mulmige Gefühl, das die merkwürdige Stimmung begründet, ist aber nicht weg, zumindest nicht ganz. Denn der Versuch deutscher Medienschaffender, sich mit den Opfern zu solidarisieren, bewirkte – eher unbeabsichtigt -, dass sie einer ganzen Gemeinde vor den Kopf gestoßen und dieses mulmige Gefühl begründet haben. Weil es wieder so plump, so rücksichtslos und so unzivilisiert wirkte, wie Europa und der Westen auf viele Muslime in der Islamischen Welt manchmal wirken.

Islamgelehrte werden es besser wissen, aber die islamische Geschichte, Kunst und Kultur kennt kein absolutes Bilderverbot. Es gibt aber einen Diskurs zwischen Rechtsschulen darüber, aber auch zwischen muslimischen Karikaturisten und Künstler. Und das nicht seit gestern. Der Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk „Rot ist mein Name“ erzählt auf packende Weise diese Auseinandersetzung im Osmanischen Reich zu einer Zeit, in dem es immer mehr unter dem Eindruck eines stärker werdenden, prachtvollen Europas steht.

Aber eine Karikatur, die plump wie brachial den Propheten darstellt, ist in manchen Fällen einer Bombe dieser feigen Terroristen sehr ähnlich, die alles Leben im Umfeld zerstört, ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Denn eine Karikatur, die den Propheten in den Mittelpunkt rückt, trifft alle Muslime gleichermaßen! Egal, welcher Rechtsschule sie angehören, die Scharia anstreben, oder doch lieber eine säkulare Gesellschaft für das Richtige halten. Es trifft auch jene, die eine Muhammad-Karikatur verabscheuen und daher Rache schwören genauso wie jene, die Muhammad-Karikaturen in Ordnung finden.

 

Demokratie: So schön, weil elegant wie einfach

Ich finde aber, dass der Fehler nicht auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft zu suchen ist. Solange einige westliche Kunst- und Meinungsschaffende sich plump verhalten, solange hat die muslimische Gemeinschaft weder verstanden, wie eine Demokratie funktioniert, noch gelernt, an dieser Demokratie teilzuhaben. Dabei ist die Demokratie so schön, weil sie elegant wie einfach ist. Sie fordert von den Menschen, die in ihr leben, nichts anderes, als sich zu artikulieren und zu zeigen, damit ihre Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt werden können.

Die muslimische Gemeinschaft aber besonders ihre Verbände verhalten sich so, als ob sie immer noch Gäste in diesem Land wären. Bloß dem Gastgeber keine Umstände bereiten und darauf achten, dass die Kinder nicht unangenehm auffallen. Und weil man ein Gast ist, riskiert man keine Widerworte und erträgt eine unangenehme Situation. Schließlich wird man nach einer Zeit das Gastland verlassen. Ein Streit lohnt sich also nicht.

Inzwischen hat ein Teil der muslimischen Gemeinde eingesehen, dass sie nicht gehen wird. Sie wird hier bleiben. Aber sie handelt als eine soziale Gruppe, als eine politische Bewegung und als Verband immer noch so, als sie nur zeitlich befristet in diesem Land verbleiben wird.

Hier ist ein immenser Widerspruch, der, so meine These, eben zu dieser merkwürdigen Haltung seitens der Mehrheitsgesellschaft führt. Warum sollen sich Meinungsschaffende und Künstler ein angemessenes Arrangement mit dem Islam und der Kritik an ihm suchen, wenn die muslimische Gemeinde selbst glaubt, nicht hier hinzu gehören.

Oder positiv formuliert: Wenn die muslimische Gemeinde in der Artikulation ihrer Positionen, Einwände, Programme und Wünsche klar und deutlich wird, wird sie von der Mehrheitsgesellschaft eine klare und deutliche Antwort erhalten.

Ich erlebe, wie Demokratie in Teilen der muslimischen Gemeinde missverstanden und auf den Akt der Wahl reduziert wird. Dies hat sicherlich auch mit dem gegenwärtigen türkischen Staatspräsidenten zu tun, der sich einerseits auf die demokratische Wahl beruft, aber andererseits Teile der Verfassung für seine Willkür aushebelt. Dabei ist es Aufgabe einer guten Demokratie, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen aufzugreifen und in der politischen Gestaltungsarbeit zu berücksichtigen, die sich bereit erklärt haben, Teil dieser Gesellschaft zu werden.

Laut reden, um gehört und verstanden zu werden

Um diesen Standpunkt deutlich zu vermitteln, führe ich an, dass die Demokratie wie eine greise Frau ist, die nicht gut hören und nicht gut sehen kann. Wenn sie uns sehen soll, müssen wir laut reden (Stichworte: Artikulation, Medien), und wenn sie uns sehen soll, müssen wir uns organisieren. Die Pegida-Demonstration ist doch ein gutes Beispiel: Deutsche, die gegenüber Fremde Ressentiments haben, organisieren sich als Protestbewegung, gehen auf die Straße und organisieren sich als Verein. Schon haben sie die Aufmerksamkeit der Politik, Institutionen, Medien und Wissenschaft gewonnen.

Dafür muss die muslimische Gemeinschaft erst wissen, was sie will, welche Forderungen sie an die Mehrheitsgesellschaft stellen möchte und welche Erwartungen sie selbst an sich hat. Die Meinungsforschungsinitiative „endaX“ ist so ein Instrument, aber eben nicht das einzige. Wenn es ihr gelingt, Klarheit im Inneren und Klarheit in der Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft herzustellen, dann kann sie auch den nächsten Schritt machen: seinen Platz in den Strukturen der Demokratie einnehmen. So kann sie gesellschaftspolitische Standards mitgestalten.

Das ist die größte Herausforderung, die sie bewältigen muss. Denn – und jetzt kommt die Mehrheitsgesellschaft wieder ins Spiel – wird diese strukturelle Integration der Muslime und des Islams nur dann gelingen, wenn die Mehrheitsgesellschaft dies zulässt – ob freiwillig aus Einsicht oder aus Druck durch die Gemeinde, die sich organisiert hat. Diese zivilisatorische Leistung der muslimischen Gemeinde sollte die Konsequenz aus Je suis Charlie ziehen. So helfen wir uns selbst und Europa, das einen neuen Anschluss an die Welt finden muss.