Brasilien: Kultureller Austausch, aber Vernachlässigung der Armen

Ein berauschendes Fußballfest neigt sich in Brasilien so langsam dem Ende zu. Viel wurde spekuliert über die Stimmung im Land wegen der großen Demonstrationen im Vorfeld des Turniers. Forgsight hat junge Brasilianer befragt, wie sie das Turnier erlebt haben und wie es ich langfristig auf die Zukunft ihres Heimatlandes auswirken könnte. (Fotos: Privat)

– von forgsight

Mario Schettino Valente ist 29, Jurist und Politologe und wohnt in Belo Horizonte im Bundesstaat Minas Gerais. 

1. Was waren deine Gefühle als du gehört hast, dass dein Heimatland Brasilien die Fußballweltmeisterschaft und die olympischen Spiele 2016 ausrichten wird?

Ich war begeistert, weil ich Fußball und Sport liebe. Die größten Sportereignisse der Welt auszurichten, ist eine Gelegenheit uns in mehreren Bereichen weiterzuentwickeln. In erster Linie im Bereich Sport (Management, Marketing, Sportrechte, Trainins- und Talentnetzwerke, Investitionen in andere Sportarten neben dem Fußball), aber auch in anderen Bereichen, die vielleicht nicht so sehr damit verknüpft sind, wie der kulturelle Austausch, Infrastruktur oder Investitionen und Verantwortung für die ärmeren Regionen. Meine Hoffnungen beruhten auf meinem Wissen der enormen Investitionen der Regierung unter der Mitte-Links Partei von Staatspräsidentin Dilma Roussef (Partido dos Trabalhadores, PT, Anm. d. Redaktion). In Brasilien herrscht enorme sozialökonomische Ungleichheit und die PT hat sich dieser seit 2003, damals unter Staatspräsident Lula, angenommen. Mehr als 20 Millionen Menschen haben seitdem die Armut verlassen. Möglich gemacht wurde dies durch Reformpakete. Diese beinhalten ein Programm der Einkommensübertragung, das Schul- und Krankenversicherungspflicht für Kinder ermöglichen soll, eine reale Steigerung des Mindestlohns, Kreditexpansion für die Unterschicht, eine Reduktion der Privatisierung, Kontrolle der Inflation und Investitionen in die Infrastruktur. Die Folgen sind, dass die Inflationsrate mit 5% für unsere Verhältnisse niedrig ist und dass die Arbeitslosigkeit sich mit ebenfalls 5% halbiert hat. Unter diesen Umständen können die beiden Sportereignisse eine Möglichkeit für uns sein, der Weltöffentlichkeit diesen Wandel zu zeigen.

2. Wie hast du die Stimmung im Land während der WM beurteilt?

Die Infrastruktur wurde bei einigen Konstruktionen schlecht geplant und umgesetzt (auch wegen der Korruption), weil sie mehr öffentliche Gelder benötigten als vorgesehen war. Die Ausrichtung der beiden Turniere wird als Rechtfertigung gesehen um durch Konstruktionen gezielt arme Leute aus ihren Häusern und ihren Vierteln zu vertreiben, insbesondere in den Favelas oder den kleinen Lebensgemeinschaften, die ohne staatliche Berechtigung irgendwo leben, wie in besetzen Häusern. Dies führte natürlich zu Unruhen, welche heftig von der Polizei aufgelöst wurden. In fast jedem Staat hat die Polizei, die hier in Brasilien wie in den USA von Staat zu Staat unterschiedlich organisiert ist, die Aufständischen provoziert, um unverhältnismäßig gewalttätig reagieren zu können. Es gibt zahlreiche „kafkaeske“ Situationen, von denen ich nur zwei nennen möchte. Die Erste ist, dass ein Obdachloser zu mehr als einem Jahr Haft verurteilt wurde für den Besitz…von Essig. Ja, ESSIG! Essig ist nützlich um die Effekte von Tränengas zu reduzieren und wurde bei vielen Aufständen konfisziert. Im anderen Fall wurden zwei Anwälte auf der Polizeiwache verhört, nachdem sie mehrmals die Identität von einigen Polizisten erfragen wollten, die eine Konferenz auf einem öffentlichen Platz niederschlugen. Die Konferenz befasste sich mit dem Thema Polizeigewalt. Diese Ausschreitungen geschahen in allen Teilen des Landes, nicht nur in der in den zentralen Gebieten, wo die PT regiert, aber hauptsächlich in Staaten und Gebieten, wo andere Parteien zusammen mit der PT regieren.

Unter diesen Umständen war die Stimmung vor dem Turnier anders als in den Jahren zuvor, als Brasilianer vorher Straßen bemalten, aufgeregt und nervös waren. Nach dem ersten Spiel änderte sich die Stimmung jedoch komplett. Ich persönlich habe dieser WM nicht besonders entgegengefiebert, wegen der Ereignisse im Vorfeld und auch wegen des Sexismus‘ und Rassismus‘, die während der Spiele im Stadion auftreten. Aber wie gesagt, ich bin verrückt nach Fußball und so ist es auch der normale Brasilianer. Die Aufregung wuchs stetig. Es führt kein Weg vorbei, um bei dieser Weltmeisterschaft nicht verrückt zu werden. Gleich am zweiten Tag hat Spanien (amtierender Weltmeister, Anm. d. Red.) fünf zu eins gegen die Niederländer verloren und Costa Rica und die anderen Lateinamerikanischen Mannschaften spielten hochklassigen Fußball, wie es keiner vorher erwartet hätte. Dann die vielen Tore! Einfach Unglaublich!

3. Welche Nachteile siehst du durch die Austragung der WM (und Olympia 2016 in Rio de Janeiro) für das Land Brasilien hinsichtlich seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung?

Im Nachhinein denke ich, dass die Polizeigewalt, die Vernachlässigung der Armen seitens der Regierung, das unmoralische Verhältnis zwischen Bauunternehmen, Politikern und politischen Parteien (Wahlen in Brasilien werden privat finanziert, wobei die Bauunternehmen die größten Spender sind) und ein signifikanter Teil der brasilianischen Gesellschaft (hauptsächlich Reiche), die den autoritären Missbrauch als „normal“ akzeptieren, die größten Nachteile sind. Die Medien spielen dabei eine große Rolle, da sie die ländliche Bevölkerung am meisten erreichen. Das sind die Probleme mit denen unser Land auch in Zukunft zu kämpfen haben wird.

4. Welche Vorteile?

Die Hauptvorteile sind der kulturelle Austausch (arme Bevölkerungsteile sind nicht in der Lage ins Ausland zu reisen) und das Geld der Touristen, von denen ich hoffe, dass viele zurückkehren und entdecken, dass Brasilien ein wundervolles Land ist mit unglaublichen gastfreundlichen Leuten. Ich habe die Hoffnung, dass wir Brasilianer nach den Protesten, der Polizeigewalt und des Amtsmissbrauchs unsere Verantwortung im Kampf für mehr Demokratie nutzen. Nicht nur um die Ungleichheit im Land zu verringern, sondern auch um die politischen Probleme zu bekämpfen.

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